# taz.de -- Poesiefestival: Da sausen schöne Sätze | |
> Gedichte, raus gehts in die Kieze! Beim Poets Corner lasen am Samstag 30 | |
> Autoren an abseitigen Orten aus ihren Werken. | |
Bild: Täglich ein Gedicht zu lesen empfiehlt taz-Autorin Susanne Messmer. | |
Erste Station: der Körnerpark in Neukölln. Über den hohen Kastanien braut | |
sich am Samstagnachmittag ein neuer Regenguss zusammen. Open Air geht | |
leider unter diesen Umständen nicht, man ist in den Teil der Orangerie | |
gezogen, die sich gleich neben Café und Galerie befindet. Auch das Publikum | |
– Leute um die 30, die stets an den richtigen Stellen kichern – ist eher | |
nicht von hier, sondern extra angereist. Insofern hat die Lesung nichts | |
mehr mit der Idee der Poet’s Corner zu tun, wie sich das die | |
Literaturwerkstatt im Rahmen des Berliner Poesiefestivals überlegt hat: | |
dass die Gedichte raussollen, in die Kieze, unter Leute, die sonst nichts | |
mit Lyrik am Hut haben. | |
Macht aber nichts. Denn die Stimmung im Körnerpark ist gut: Das liegt am | |
schönen Licht in der Orangerie, es liegt am Blick auf die erwähnten | |
Kastanien und die Palmen in Kübeln, es liegt aber vor allem an der | |
expressiven Lyrik der Lesenden – allen voran die Werke der Berliner | |
Dichterin Jinn Pogy, Redakteurin und Mitherausgeberin der Berliner | |
Zeitschrift für Lyrik und Prosa Lauter Niemand. Schöne Sätze wie der vom | |
„Recht auf ein Versteck, das von Körperwärme beheizt wird“, sausen durch | |
den Raum. Man müsste viel öfter Gedichte lesen, idealerweise eins am Tag, | |
denkt man noch, aber da geht es schon weiter. Denn an diesem Samstag gibt | |
es an fünf Stellen in der Stadt eine Poet’s Corner, und zwei davon will man | |
noch sehen. Mindestens zwei. | |
Zweite Station: Die Wagenburg Lohmühle in Treptow, gegenüber vom Görlitzer | |
Park, auf dem einstigen Grenzstreifen am Landwehrkanal. Wer Kaffee will, | |
der muss damit klarkommen, dass man ignoriert wird, wenn man ihn bezahlen | |
oder zuckern will. Den Becher gilt es im Anschluss selbst zu spülen, sonst | |
gibt’s Schimpfe. Es sind mehr als 40 Personen da – auch viele, die hier | |
wohnen: Kinder, die eine Frau mit der Wasserpistole um einen schönen | |
Bauwagen jagen; ein Mann, der mit selbst gebasteltem Fahrradanhänger kurz | |
innehält und guckt, was da wieder los ist, bevor er losfährt. | |
## Erst Jazz, dann Worte | |
Zuerst gibt es auf der großen, überdachten Bühne im Eingangsbereich, die | |
hier Kanzleramt heißt, Jazz: Musik des ebenso drahtigen wie nervösen | |
Vibrafonisten Christopher Dell mit Schlagzeugbegleitung von Christian | |
Lillinger. Dann betritt ein großer, dürrer Mann Mitte 30 die Bühne. Er | |
trägt himmelblaues Hemd, schwarzen Anzug und Krawatte, Kapitän-Ahab-Bart, | |
einen Pferdeschwanz und wirkt überhaupt wie einer dieser exzentrischen | |
Leichenbestatter aus der TV-Serie „Six Feet Under“. | |
Der Mann heißt Tom Bresemann und liest, als sei er Mitglied der weltbesten | |
Lesebühne: Mit charmantem Berliner Akzent, sehr präsent und pointiert. | |
Seine Gedichte, die er zuletzt unter dem Titel „Berliner Fenster“ im Berlin | |
Verlag veröffentlicht hat, beinhalten witzige Wortspiele mit neudeutschen | |
Unworten, zum Beispiel „Contents aller Länder, vereinigt euch“. Recht | |
schnell muss er sich leider schon wieder um seinen Hund kümmern, der | |
plötzlich anfängt zu jaulen, vor allem aber um sein Baby, das es nicht mehr | |
aushält im Kinderwagen – all das macht ihn nicht weniger sympathisch. | |
Das scheint auch der grinsende Björn Kuhligk in seinem Lehnsessel am Rande | |
so zu sehen, der nun Tom Bresemann das Baby in den Arm drückt und die Bühne | |
betritt. Kuhligk ist einer der einflussreichsten jüngeren Lyriker Berlins. | |
Zusammen mit Jan Wagner gab er eine der besten Anthologien für junge Lyrik | |
heraus: „Lyrik von jetzt“. Es folgten neben eigenen Gedichtbänden die | |
beliebten „Kneipenbücher“, in denen Autoren über ihre Lieblingskneipen | |
schrieben. Auch ist Björn Kuhligk für die Poet’s Corner verantwortlich, die | |
er als Leiter einer Lyrikreihe der Literaturwerkstatt einführte. | |
## Reime, die hängen bleiben | |
Seine Gedichte sind kompliziert, wimmeln aber auch vor tollen Reimen, die | |
hängen bleiben. Zum Beispiel: „Die Liebe ist ein Milchmädchen. Spricht sie, | |
ich liebe dich, ist sie drei Liter tief.“ Was das heißen soll? Es heißt, | |
dass hier jemand versucht, die großen Themen – Liebe, Sex und all das, was | |
jeder bei jeder Gelegenheit zerredet – so zu beschreiben, wie sie noch nie | |
beschrieben worden sind. Lustig, dass es im Moment, als Björn Kuhligk diese | |
Zeile liest, zu regnen beginnt. Es ist Zeit, den Kiez zu wechseln. Diesmal | |
ist der Weg länger. Es geht durch Friedrichshain und Weißensee, hinauf bis | |
fast zum Malchower See. | |
Dritte Station: Mitten im schönsten Plattenbau, wo es aussieht wie in | |
Peking und zwischen den hohen Häusern schon wilde Wiesen wuchern, da | |
befindet sich seit kurz nach der Wende eine Kunst- und Literaturwerkstatt. | |
Leiterin Brigitte Graf macht nun schon zum dritten Mal bei der Poet’s | |
Corner mit. | |
In ihrer Einführung entschuldigt sie sich für die wenigen Besucher und | |
spricht davon, dass sie noch immer keine Schulklassen gewinnen konnte, | |
mitzumachen. Die vier jungen Lyriker aus dem Wohnzimmerkollektiv G13, die | |
gleich lesen werden, nehmen’s gelassen. Man begrüßt überschwänglich den | |
dritten und letzten geladen Gast des Abends. Dann beginnt der 25-jährige | |
Max Czollek davon zu lesen, wie er mal eine „aus der Leinwand geknutscht“ | |
haben will. Die anderen kichern wie Kinder, die sich in einer Geheimsprache | |
verständigt haben. | |
Die Gedichte von Max Czollek sind interessant, aber plötzlich reicht es. | |
Mehr als 20 Gedichte an drei Orten in Berlin: Der Kopf ist voll. Es geht | |
nach Haus. | |
3 Jun 2012 | |
## AUTOREN | |
Susanne Messmer | |
## TAGS | |
Lyrik | |
Schwerpunkt Urheberrecht | |
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