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# taz.de -- Ein Plädoyer fürs Wählen mit 16: Diffamierung per Zahnspange
> Wenn Hamburg und Schleswig-Holstein übers Absenken des Wahlalters
> diskutieren, wird wieder die Warnung vor der angeblich unreifen Jugend
> ertönen. Dabei haben Bremer Erfahrungen die widerlegt.
Bild: Frühes Interesse: Vor der Schleswig-Holstein-Wahl diskutieren Jugendlich…
BREMEN taz | Wählen mit 16 ist in deutschen Bundesländern ein Thema: Die
drei rot-grünen Länder Schleswig-Holstein, NRW und Rheinland-Pfalz haben es
in ihren Koalitionsvertrag aufgenommen. In Hamburg beschäftigt sich bereits
ein Ausschuss der Bürgerschaft mit einer möglichen Umsetzung. Und in Bremen
wurde am 22. Mai 2011 erstmals ein Landesparlament auch von 16–17-Jährigen
gewählt.
Kurz zuvor war die Senkung des Wahlalters zum Thema der bundesweiten
Berichterstattung geworden. Ein Bild setzte sich dabei durch: „Wähler mit
Zahnspange“ titelte die Welt kompakt am 20. Mai 2011. Der erste Satz der
Süddeutschen zum Titel „Wählen mit 16“ zwei Tage vorher: „In Bremen tr�…
der neue mündige Bürger Zahnspange“. Vermutlich hatten beide Zeitungen
dieses Bild einem Spiegel-Artikel entnommen, der weitere zwei Tage zuvor
erschienen war und ebenfalls begann mit: „Der mündige Bürger ist klein und
dünn, er trägt eine Zahnspange“ (20 / 2011).
Was dieses Bild aussagt, wird erhellt durch die Tatsache, dass ein
angehender Wehrdienstleistender bei der Tauglichkeitsprüfung ein „T4“
erhielt, wenn er noch eine Zahnspange trug: „Vorübergehend nicht
wehrdienstfähig“, also nicht kompetent, unreif und unfähig, Verantwortung
für das Gemeinwesen zu übernehmen.
Der Unreife-Verdacht ist eines der am häufigsten vorgetragenen Argumente
gegen die Absenkung des Wahlalters. Während Professor Klaus Hurrelmann,
Mitautor der breit angelegten Shell-Jugendstudie, im Widerspruch zu dieser
Annahme schon seit 1997 feststellt, dass sich „die faktische
Lebenssituation“ von Jugendlichen und der über 18-Jährigen „angeglichen“
habe, und auch der Bildungssoziologe Christian Palentien, Professor an der
Bremer Uni, feststellt, dass sie „ab einem Alter von ungefähr 14 Jahren
sozial und moralisch urteilsfähig“ sind, stützt sich das Unreife-Argument
auf eine – methodisch fragwürdige – Untersuchung der Uni Hohenheim: Der
Diplom-Kommunikationswissenschaftler Jan Kercher will dort per
Multiple-Choice-Abfrage des Standardwissens von 134 SchülerInnen
herausgefunden haben, dass „16- und 17-Jährige“ ein „signifikant geringe…
politisches Wissen als Volljährige“ hätten, wie der Spiegel resümiert – …
deshalb nicht wählen könnten.
Statt diesen behaupteten Zusammenhang infrage zu stellen, geht es der
Presse oft nur darum, die Behauptung mit geeignet diffamierenden Bildern zu
illustrieren. So hatte der Verfasser des Spiegel-Artikels zuvor eine
Podiumsdiskussion der Bremer SpitzenkandidatInnen mit Jugendlichen
beobachtet.
Dabei traf er auch SchülerInnen meines Kurses. Dieser Kurs hatte seit
August 2010 zum Thema Wahlrecht ab 16 gearbeitet, MitschülerInnen
aufgeklärt und motiviert, von ihrem neuen Wahlrecht Gebrauch zu machen,
sich in vielen Diskussionen mit Politikern eingemischt und immer wieder in
Zeitungen, Radio- und Fernsehsendungen zur Politik Stellung genommen.
Einer von diesen 23 Schülern trägt eine Zahnspange.
Der Spiegel greift ihn heraus, nennt ihn mit vollem Namen und schreibt zu
„seinem Auftritt im Festsaal der Bremischen Bürgerschaft“, was in einer
Theaterrezension eine vernichtende Kritik genannt würde: „Sichtlich nervös
schleicht der Schüler zum Mikrofon und liest dort vom Zettel seine Frage
ab. Es geht um die Lehrstellensituation, die sei nicht befriedigend […]. Er
referiert Zahlen und Zitate, die er zuvor mit seinen Mitschülern
zusammengetragen hat. Er wird immer leiser, am Ende ist er fast nicht mehr
zu verstehen. Nach einer Minute läutet eine Glocke, einige der 400 Schüler
im Saal lachen.“
Die Zahnspange ist bei dieser Schilderung einer Frage nach einer „nicht
befriedigenden Lehrstellensituation“ ein wichtiges Bild für Inkompetenz.
Ein paar Tage später rufe ich den Redakteur an und will wissen, wonach der
Schüler eigentlich gefragt habe. Der Journalist hatte nicht mehr begriffen,
als er schreibt – und das ist wenig: „Die unbefriedigende
Lehrstellensituation, genauer weiß ich das nicht“, bekennt er.
Tatsächlich hatte der Schüler in seinem Beitrag die Probleme der
Lehrstellensituation in Deutschland und vor allem in Bremen ausführlich
dargestellt: In der veröffentlichten Meinung, im Berufsbildungsbericht der
Bundesregierung stand die Einschätzung im Zentrum, dass nur zwei Prozent
der Lehrstellenbewerber „unversorgt“ seien, dass die Wirtschaft viele
Lehrstellen nicht besetzen könne.
Als nicht befriedigend können nur inkompetente Jugendliche – wahrscheinlich
mit Zahnspange – diese Lehrstellensituation empfinden. Die SchülerInnen des
Kurses hatten dagegen tatsächlich Statistiken gewälzt und herausgefunden,
dass laut Berufsbildungsbericht bundesweit nur 48 Prozent der Bewerber in
eine Berufsausbildung eingemündet waren, in Bremen sogar nur 36 Prozent.
Entgegen der offiziellen Darstellung war die Mehrheit der Jugendlichen 2010
ohne Lehrstelle geblieben und oft in Warteschleifen geblieben.
Wenn der Schüler also die Fakten genannt und nach der mangelnden
„Berufseinmündung“, dem Fachbegriff der Berufsbildungsforschung, gefragt
hatte, war das zweifellos eine begrifflich kompetente Art, das Problem
darzustellen. Es hatte zudem direkten Bezug zur Bremer Regierungspolitik.
Im rot-grünen Koalitionsvertrag von 2007 hieß es ja ausdrücklich: „Das Ziel
aller Maßnahmen muss die Einmündung in Ausbildung sein.“ Der Redebeitrag
des Schülers war insofern eine zweifellos sachliche und politisch
kompetente Kritik an der Regierungsarbeit.
Zum Beispiel für Unreife wird er im Spiegel und danach in anderen Zeitungen
der Bundesrepublik – weil er eine Zahnspange trägt. Und etwas leise
spricht.
Der zweite populäre Vorbehalt gegen eine Absenkung des Wahlalters ist die
Vermutung, dass „Jugendliche gern Protest“ wählen würden – womit ein
höherer rechtsradikaler Stimmenanteil gemeint ist. Doch auch hier wird mit
unkorrekten Belegen gearbeitet, etwa dem Vergleich des NPD-Anteils aller
Altersgruppen bei verschiedenen Landtagswahlen mit denen bei der
Juniorwahl, einer Wahlsimulation an Schulen. Das führt zu grotesk falschen
Aussagen: Bei der Juniorwahl in Sachsen-Anhalt hätte „die NPD mehr als
doppelt so viele Stimmen wie bei der tatsächlichen Wahl“ erreicht,
berichtete der Spiegel.
Wahr ist, dass der Anteil der NPD-WählerInnen bei der Juniorwahl mit 11,4
Prozent bedenklich hoch lag. Er lag deutlich über dem Gesamtergebnis (4,5
Prozent), aber nur unwesentlich über dem der über 18 Jahre alten Erstwähler
(10,1 Prozent). Und: Diese Tendenz muss nicht eintreten.
So hatte es an den Bremischen Schulen eine intensive politische Bildung
gegeben. Alle Schulen hatten sich an der Juniorwahl beteiligt, 500 Schüler
hatten sich über die „Werderwette“ für eine hohe Wahlbeteiligung engagier…
an vielen Schulen Diskussionen organisiert.
Das Ergebnis soll am Beispiel Bremerhaven illustriert werden, wo ein
rechtsradikales und rechtspopulistisches Wählerpotenzial seit mehreren
Jahren Vertreter der DVU und der Bürger in Wut (BIW) ins Landesparlament
gespült hatte. Auch 2011 zog die rechtspopulistische BIW dort mit 7,1
Prozent in die Bürgerschaft ein. Lag das an der Absenkung des Wahlalters?
Nein: Bei den Bremerhavener Juniorwahlen fiel BIW mit 2,5 Prozent durch.
Auch wenn man den rechten Block von BIW, NPD und Protest der Bürger
addiert, kommt man bei der Bremerhavener Juniorwahl nur auf 6,5 und beim
amtlichen Endergebnis der Landtagswahl auf 10,1 Prozent.
Zugleich war die Wahlbeteiligung der Erstwähler (16–20 Jahre) bei der
Bremer Wahl ein Erfolg: Sie lag laut amtlicher Wahlstatistik mit 48,6
Prozent deutlich höher als bei der folgenden Altersgruppe von 21–35 Jahre
(41,3 Prozent). Zudem stieg in der Altersgruppe der Erstwähler die
Wahlbeteiligung insgesamt an, während sie allgemein rückläufig war.
Daran hatten gerade die 16–17-Jährigen Anteil, die sich mit 53,6 Prozent
beteiligten. Gegenüber den Stadtteilbeiratswahlen 2007, bei denen sie
bereits wählen durften, stieg ihre Wahlbeteiligung um satte 9,2 Prozent.
Die 25 Schulklassen hatten damit ihre Wette gegen die Fußballer von Werder
Bremen gewonnen, dass die Wahlbeteiligung der Erstwähler höher sein würde
als die in der Altersgruppe der Sportler (21–35-Jahre).
Schließlich hatten die angeblich so unreifen Erstwähler den geringsten
Anteil an ungültigen Stimmen aller Altersgruppen. Bei den über 60-Jährigen
war er vier Mal höher. Auch laut Landeswahlleiter Jürgen Wayand ist „die
Absenkung des aktiven Wahlalters auf 16 Jahre als Erfolg zu werten“. Der
sei jedoch „nicht vom Himmel gefallen, sondern Ergebnis intensiver
Beschäftigung mit dem Thema Wahlen an den Schulen“. Diese wertete er
angesichts einer sonst wachsenden Wahlmüdigkeit als „wertvolle Investition
in die Zukunft“.
Die Absenkung des Wahlalters auf 16 Jahre ist also sinnvoll. Sie muss aber
auch begriffen werden als eine Aufgabe der Demokratieerziehung.
16 Jun 2012
## AUTOREN
Hans-Wolfram Stein
## TAGS
R2G Bremen
Politische Bildung
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