# taz.de -- Der Flaneur in Berlins Heimatliteratur: Mit dem Finger auf der Esca… | |
> Aufstand der Irren: Der Flaneur ist in die Berliner Literatur | |
> zurückgekehrt. Er ist mehr als eine Retromode. Aber taugt er auch als | |
> Ikone des Widerstands? | |
Bild: Hipster, Sickster oder einfach nur relaxende Flaneure am Berliner Landweh… | |
Als vor über 80 Jahren Franz Hessel sein bekanntestes, den Nachruhm | |
sicherndes Buch „Spazieren in Berlin“ erscheinen ließ, antwortete sein | |
Freund Walter Benjamin mit einer Jubelbesprechung, die gleich eine ganz | |
literarische Gattung wiederauferstehen lassen wollte. Das „Schauspiel der | |
Flanerie, das wir endgültig abgesetzt glaubten.“ | |
Warum man ausgerechnet in Berlin, wo der Flaneur „niemals in hoher Blüte | |
stand“, plötzlich wieder die bequemen Laufschuhe hervorkramte, wusste | |
Benjamin natürlich auch. Die Berliner sind „andre geworden“. „Langsam | |
beginnt ihr problematischer Gründerstolz auf die Hauptstadt der Neigung zu | |
Berlin als Heimat Platz zu machen.“ Einer Neigung, die dann eben auch den | |
Blick vom großen, strahlenden Ganzen auf die kleinen, manchmal schmutzigen | |
Details lenkt. | |
Haben wir gerade eine ähnliche Situation? Beginnt die Hauptstadthybris, der | |
„problematische Gründerstolz“ der neuen Berliner Republik, der für eine | |
Weile Relevanz oder gar Qualität zu einer Frage der Adresse degradierte, | |
langsam einem entspannteren, souveräneren, realistischeren Verhältnis der | |
hiesigen Kulturschaffenden zu ihrer Stadt zu weichen? Das würde zumindest | |
einen Trend in der aktuellen deutschen Literatur erklären. Der Flaneur ist | |
wieder einmal zurück. Oder zumindest wird ihm in letzter Zeit mehr | |
Aufmerksamkeit gezollt. | |
So kam es im letzten Jahr, vielleicht auch verstärkt durch den | |
Bestsellererfolg von Stéphane Hessel, dessen Pamphlet „Empört Euch!“ zum | |
Demo-Marschgepäck der neuen kapitalismuskritischen Bürgerprotestbewegung | |
avancierte, zu einer veritablen Renaissance seines Vaters Franz Hessel. Die | |
splendide Neuauflage seiner Spaziergänge (Verlag für Berlin-Brandenburg) | |
ging in die zweite Auflage, der Lilienfeld Verlag publizierte einen Reprint | |
des kleinen Stadt- und Zeitporträts „Heimliches Berlin“ und schob in diesem | |
Frühjahr auch noch seinen hübschen autobiografischen Roman „Kramladen des | |
Glücks“ nach. | |
Aber auch seine literarischen, tja, Wiedergänger werden mit einiger | |
Aufmerksamkeit bedacht. Unter dem Titel „Möbel zu Hause, aber kein Geld für | |
Alkohol“ versammelt Klaus Bittermann, Gegenkultur-Historiker und Verleger | |
der Edition Tiamat, „Kreuzberger Szenen“ (die zuvor auf der | |
Berlinkulturseite der taz erschienen waren). David Wagner, der schon für | |
die legendären Berlinseiten der FAZ durch die Stadt streifte, | |
veröffentlicht mit „Welche Farbe hat Berlin“ (Verbrecher Verlag) ebenfalls | |
neue Stadtbegehungen, und Helmut Kuhn macht in seinem Roman „Gehwegschäden“ | |
(Luchterhand) das Asystematische, Diskontinuierliche der flaneuristischen | |
Observation zum Strukturprinzip. | |
## Priester des genius loci | |
Für einigen Wirbel sorgte zuletzt Albrecht Selge, der in seinem Roman | |
„Wach“ (Rowohlt.Berlin) den desillusionierten Shoppingmall-Manager August | |
Kreutzer in offensichtlicher Hessel-Tradition auf Fußtour durch Berlin | |
schickt. Kreutzer ist ein Bildungsprotz, der „entfremdet“ und systemergeben | |
die anfallenden Konsumnichtigkeiten in einem Kundennewsletter bedichtet und | |
schließlich, weil ihm dann auch noch die Frau abhaut, nicht mehr schlafen | |
kann. In diesem überreizten, hyperwachen, für die klitzekleinen | |
Alltagssensationen anfälligen Wahrnehmungsmodus irrt er durch die Stadt als | |
eine Art „Priester des genius loci“ (Benjamin). | |
Bei Selge wird das Gehen zu einem Krankheitssymptom. Sein Held versteht die | |
Welt nicht mehr: „Dass alle so ruhig bleiben beim Dahinleben, dass nicht | |
alles zusammenbricht, weil alle den Dienst quittieren, dass nicht alle | |
aufhören damit: Aufstehen. Anziehen, Essen. Und Arbeiten.“ | |
Der Zusammenbruch, den „Wach“ nur andeutet, ist der Generalbass in Thomas | |
Melles „Sickster“ (auch Rowohlt.Berlin), dem meistbesprochenen Berlinroman | |
der letzten Zeit. Melle verfolgt gleich drei Protagonisten durch ihre Tage | |
und Nächte, die das Berlin der Neuen Mitte buchstäblich krank macht. | |
Thorsten arbeitet in einem Erdölkonzern, Abteilung „Space Management“. Er | |
sorgt sich um die suggestive Anordnung der Produkte in Tankstellen, auf | |
dass sie noch mehr Profit generieren. „Warendruck“ ist sein Mantra, und den | |
erfährt er am eigenen Leib, er verfällt dem Suff, weil die Geschäfte nicht | |
so laufen und weil er womöglich selber an der Sinnhaftigkeit seines Tuns | |
zweifelt. | |
Auch Laura, seine Freundin, stellt sich die S-Frage. Die Beziehung läuft | |
leer, ihr Halbtagsjob in einem Callcenter höhlt sie aus, sie spürt sich | |
nicht mehr und fängt an, sich selbst zu verletzen. Und schließlich ist da | |
noch Magnus, der brillante Kopf und Artifex, der sich selbst eine große | |
Karriere als Drehbuchautor vorausgesagt hat. Auch er scheitert an Berlin, | |
verdingt sich mit „Worthurerei“ bei einem Firmenmagazin der Ölgesellschaft. | |
Die Differenz zwischen den hehren Ansprüchen und der niederschmetternden | |
Wirklichkeit bringt ihn schier um den Verstand. In der geschlossenen | |
Abteilung der Charité treffen sich die drei wieder und planen den großen | |
Coup gegen das charakterverbiegende, nervenzerrüttende System – den | |
Aufstand der Irren. Denn die Irren, das ist einer der Lehrsätze der | |
vorgestrigen Hipster-Ideologie, auf die Thomas Melle schon im Titel | |
anspielt, sind die eigentlich Gesunden in einem irren System. | |
Ein bisschen herrscht also Katerstimmung in der Hauptstadt. Während noch | |
vor Jahren im Zuge des Berlin-Hypes eine urbane Avantgarde wie die | |
„digitale Boheme“ ihre Rund-um-die-Uhr-Verfügbarkeit und sich selbst als | |
sexy verkaufen wollte und gewissermaßen der völligen Hingabe an den Markt | |
das Wort redete, so geschehen etwa in Holm Friebes und Sascha Lobos | |
essayistischer Selbstapotheose „Wir nennen es Arbeit“, liegt der Finger nun | |
augenscheinlich öfter mal auf der Escape-Taste. | |
Der zum „Sickster“ derangierte Hipster sucht sich Freiräume, Schutzzonen, | |
in denen er dem Zugriff des Systems zumindest für einige Zeit enthoben ist. | |
Die Romane „Wach“ und „Sickster“ thematisieren solche Befreiungsschläg… | |
Und auch die besondere Aufmerksamkeit, die den Spazier- und Müßiggängern | |
augenblicklich zuteil wird, zeugt womöglich von der Sehnsucht nach Dispens. | |
Übrigens nicht nur in Berlin. In Lee Rourkes mit dem „Not The Booker Prize“ | |
der britischen Tageszeitung Guardian ausgezeichneten Roman „Der Kanal“ | |
(Mairisch Verlag) geht ein Londoner Angestellter eines Tages nicht mehr zur | |
Arbeit, setzt sich auf eine Bank am Regent’s Canal und überlässt sich ganz | |
dem langsamen Verstreichen der Zeit. „Es war gut, hier zu sitzen und dem | |
Lauf der Dinge zuzusehen – nichts zu sagen, nichts zu tun und nichts zu | |
denken. Es war wirklich gut.“ | |
Die sukzessive Beschleunigung aller Arbeits- und Lebensprozesse weckt | |
offenbar ein Bedürfnis nach Kontemplation, das sich seit einiger Zeit auch | |
auf dem Buchmarkt ablesen lässt – etwa an den Chartplätzen der Wanderbücher | |
von Harpe Kerkeling und Wolfgang Büscher. Die Flaneurfigur hat nun den | |
unschätzbaren Vorteil, für ihre Ab- und Ausschweifungen nicht mal mehr | |
verreisen zu müssen. Der Flaneur fährt eben nicht in den Urlaub, der ja | |
auch geplant sein will, er nimmt sich die Freiheit unmittelbar, noch dazu | |
ohne Kalkül. Er geht nicht nur, er lässt sich gehen. | |
Das alles korrespondiert mit der ebenfalls gerade zu beobachtenden | |
positiven Umwidmung der Langeweile. Die war ja mal tödlich. Und auch der | |
Punk beschwor sie nur so lautstark, weil die übertriebene Affirmation | |
letztlich helfen sollte, die Langeweile zu überwinden. Lee Rourkes | |
Protagonist hingegen zelebriert sie geradezu. „Manche Leute halten | |
Langeweile für etwas Schlechtes, das man vermeiden sollte, und meinen, dass | |
man das Leben mit allem möglichen Zeug anfüllen sollte, nur um die | |
Langeweile in Schach zu halten. Das denke ich nicht. | |
Ich halte Langeweile für etwas Gutes; sie formt uns und treibt uns an.“ | |
Angesichts der permanenten Vereinnahmung und Funktionalisierung des | |
Menschen in seinen Lebens- und Arbeitswelten scheint sich die Langeweile zu | |
einer positiv konnotierten Verweigerungsgeste gemausert zu haben. Man fühlt | |
sich an den alten Loriot-Sketch erinnert. „Ich will hier einfach nur | |
sitzen.“ | |
Aber der Flaneur geht ja los, neue Erfahrungen sammeln, um sie anschließend | |
in Literatur einzuschmelzen. Und dafür ist eine Stadt wie Berlin offenbar | |
immer noch – oder wieder – das richtige Pflaster. Damit ist es dann aber | |
durchaus fraglich, ob der Flaneur als so eine Art Ikone des Widerstands | |
wirklich taugt. Er hat ja ganz konkrete Verwertungsabsichten. Indem er | |
seine kleinen Fluchten literarisch ausbeutet, trägt er doch nur wieder | |
seine Haut zu Markte. | |
18 Jun 2012 | |
## AUTOREN | |
Frank Schäfer | |
## TAGS | |
Buch | |
Reiseland Belgien | |
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