# taz.de -- André Kertész-Ausstellung im Gropius-Bau: Der Schattenmann | |
> Der Martin-Gropius-Bau zeigt eine große Retrospektive des ungarischen | |
> Fotokünstlers André Kertész. Sein Werk bestimmte die Suche nach der | |
> wahrgenommenen Wirklichkeit. | |
Es ist die wohl teuerste Gabel der Welt. 688.000 Euro hätte vor zwei Jahren | |
auf den Gallery Desk legen müssen, wer diese "Mona Lisa der Fotografie" von | |
der Art Basel direkt zu sich nach Hause hätte mitnehmen wollen. 1928 hatte | |
der aus Ungarn stammende Fotograf André Kertész dieses eigentlich | |
unscheinbare Essutensil auf einem x-beliebigen Pariser Tellerrand | |
vorgefunden. Die verschwiegene und zurückhaltende Aufnahme ist zur Ikone | |
geworden. Und so ist sie auch im Berliner Martin-Gropius-Bau, wo derzeit | |
eine große, vom Jeu de Paume ausgerichtete Retrospektive zu Kertészs Werk | |
zu sehen ist, präsent: in Form eines Kontaktabzugs, kaum größer als eine | |
Briefmarke. | |
Diese Gabel ist Kertészs Meisterstück. Eine reduzierte Komposition aus | |
Strenge und Licht. Ein Arrangement aus Alltäglichkeiten. Um die Noblesse | |
dieses Bildes schien der Fotograf bereits gewusst zu haben, als er das | |
Motiv ein Jahr später für eine Werbekampagne des Silberwarenherstellers | |
Bruckmann freigeben ließ: "Gute Geldanlage, Schmuck des Tisches", lautete | |
da der Slogan, mit dem das Besteckstück in deutschen Zeitschriften beworben | |
wurde. | |
Eine gute Geldanlage wären zu diesem Zeitpunkt auch die Vintages des 1894 | |
in Budapest als Sohn eines Buchhalters zur Welt gekommenen Kertész gewesen. | |
1922 aus seiner ungarischen Heimat nach Paris gekommen, stand der gelernte | |
Banker damals noch weitgehend am Anfang seines fotografischen Schaffens. | |
Während er sich in jenen Jahren mit Postkartenmotiven und kleinen | |
Zeitschriftenaufträgen über Wasser hielt, sind seine Aufnahmen heute, 26 | |
Jahre nach seinem Tod, kaum noch zu bezahlen. Um so erfreulicher ist es, | |
dass die von Michel Frizot und Anne-Laure Wanaverbecq kuratierte Berliner | |
Kertész-Retrospektive dennoch vielfach auf Originale sowie auf vom | |
Fotografen erstellte Silbergelatine-Abzüge aus den 60er und 70er Jahren | |
zurückgreift. | |
## Perfekte Komposition | |
Frizot und Wanaverbecq entfalten das Werk Kertészs in seiner ganzen Breite: | |
von den ersten Porträtaufnahmen, die er in Ungarn von seinem Bruder Jenõ | |
gemacht hat, über Armeeaufnahmen aus dem Ersten Weltkrieg bis hin zum | |
amerikanischen Spätwerk. Sie geben einen detaillierten Überblick über die | |
Seherfahrungen eines der wichtigsten ungarischen Avantgardefotografen des | |
20. Jahrhunderts. Mit seinem Landsmann Moholy-Nagy verband ihn ein Gespür | |
für perfekte Formkompositionen, mit Brassaï die surreale Poesie. | |
Über Jahre hinweg blieb Kertész dennoch ein Schattenmann. Sein Freund und | |
zeitweilige Weggefährte Brassaï hatte längst seinen epochalen Bildband | |
"Paris de nuit" veröffentlicht, da war der Name Kertész allenfalls den | |
Künstlerkreisen vom Montparnasse sowie den aufmerksamen Lesern von VU, | |
LImage oder Regards ein Begriff. Doch es gab in jenen Jahren auch erste | |
wichtige Ausstellungsbeteiligungen - darunter 1928 am Salon de lEscalier | |
und ein Jahr später an der legendären Stuttgarter Schau "Film und Foto". | |
Aus der Rückschau betrachtet sollten die Pariser Jahre zur wichtigsten | |
Schaffensperiode des Fotografen werden: In Paris entstanden seine streng | |
durchkomponierten Aufnahmen von Künstlerbehausungen - darunter das berühmte | |
Foto "Chez Mondrian" - sowie seine vom Surrealismus beeinflusste Aktserie | |
"Distorsion". 1933 wurde diese mittels Zerrspiegel entstandene Bildfolge in | |
der Zeitschrift Le Sourire abgedruckt. | |
Aus dem Schattendasein hat André Kertész Stil und Tugend entwickelt. Ein | |
Selbstporträt aus dem Jahr 1927 etwa zeigt den Fotografen mit seiner | |
Plattenkamera als seinen eigenen Schattenriss. Kaum ein Fotograf davor hat | |
das Spiel mit den Lichtabdrücken der Dinge derart zur Perfektion gebracht | |
wie André Kertész. Immer wieder gibt es auf seinen Aufnahmen | |
Dopplungseffekte aus Gegenstand und Schattenwurf: Der Abdruck des | |
Eifelturms auf dem Asphalt des Champ de Mars oder der Schatten von Stühlen | |
am Medici-Brunnen. Selbst die berühmte Gabel verdoppelt sich auf ihrer | |
Tischplatte. Es ist, als wollte Kertész mit solchen Bildern das Mysterium | |
der Fotografie selbst ins Bild bringen: die Präsenz in der Absenz; den | |
Lichtwurf der Erscheinungen auf Negativfilm. | |
Am symbolträchtigsten gelingt ihm das auf einer Aufnahme, die er selbst | |
"Der Schattenmaler" genannt hat: Auf einer Leiter stehend sieht man hier | |
einen Fassadenmaler bei seinem Tagwerk. Während die Sonne seine Silhouette | |
auf die Hauswand wirft, berühren sich Schattenbild und Wirklichkeit an der | |
Nahtstelle des Pinselstrichs. | |
## Fotografisches Farewell | |
Für den in sich gekehrten Flaneur Kertész scheint es außer Frage zu stehen: | |
Fotografie ist eine Schattenspur - ein Umweg, der ihn zur Welt hinführt. | |
"Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie viel schöne Dinge ich hier in Paris | |
sehe, die die anderen nicht bemerken", äußert er sich einmal hingerissen zu | |
seiner fotografische Weltaneignung. Von Beginn an sind seine apparativen | |
"Bemerkungen" subjektive Fotografien. Lange bevor Otto Steinert diesen | |
Terminus für die deutsche Nachkriegsfotografie in Beschlag nimmt, versteht | |
der Ungar das Medium als sein visuelles Tagebuch. Mit seinen Streifzügen | |
durch die Stadt macht er sich nicht auf die Suche nach einer wahren, | |
sondern immer nach einer wahrgenommener Wirklichkeit. | |
Das ändert sich auch nicht, als er 1936 nach New York übersiedelt. Doch der | |
Big Apple verweigert sich ihm. Heimweh und Melancholie führen den | |
europäischen Exilanten zeitweise bis an den Rand einer Depression. Seine | |
Bilder aus dieser Zeit spiegeln diese emotionale Isolation wider. Sie | |
tragen Titel wie "Verlorene Wolke" oder "Melancholische Tulpe". Endgültig | |
bricht für den Fotografen eine Welt zusammen, als 1977 seine Frau Elisabeth | |
stirbt. Mit der fast schon abstrakten Polaroid-Serie "From my Window" | |
widmet ihr Kertész ein letztes fotografisches Farewell. In der Berliner | |
Retrospektive bildet dieser selten gezeigte Nekrolog den gelungenen | |
Schlussakkord unter ein Künstlerleben, das wegweisend gewesen ist für das | |
fotografische Sehen der europäischen Zwischenkriegszeit. Mochte Kertész am | |
Ende seines Lebens auch Amerikaner geworden sein, im Herzen blieb ihm immer | |
Paris. | |
## Bis 11. September, Martin-Gropius-Bau, Berlin, Katalog (Hatje Cantz) | |
49,80 Euro | |
15 Jun 2011 | |
## AUTOREN | |
Ralf Hanselle | |
## ARTIKEL ZUM THEMA |