Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Umweltpolitik in Indien: Morgens essen sie Tee
> Ram Kurani Saroj haust mit ihrer Familie an einem dreckigen Fluss in
> Indien und ist unterernährt. Für das Naturschutzgebiet nebenan hat sie
> keinen Sinn.
Bild: Am Fluss in Dehli wird gebadet, gegessen und geschlafen. Kurz: gelebt.
DEHLI taz | Dies ist die Geschichte eines Tages im Leben der Inderin Ram
Kurani Saroj. Sie erzählt von einem Leben in Armut in einer zerstörten
Umwelt. Fast ein Drittel der Menschheit lebt in Verhältnissen wie Saroj.
Was kann eine Frau wie Saroj tun, um die Umwelt zu retten? Darauf kommt es
eigentlich an. Doch das kann man sie nicht fragen.
Sarojs Tag beginnt morgens um halb fünf. Über Delhi steht tief am Horizont
der Vollmond. Es dämmert. Die Vögel fangen an zu zwitschern. Ein seltener
orangeblauer Eisvogel mit spitzem, langen Schnabel fliegt vorbei. Das ist
der Moment, in dem Saroj ihre staubige Decke zurückwirft und aus dem
zusammengeflickten Mückenschutz ihrer Holzpritsche hervorklettert. Sie
braucht keinen Wecker. Jeden Morgen lässt sie sich von den Vögeln wecken.
Nicht weit von ihrem Slum am Ufer des großen Yamuna-Flusses haben die
Stadtbehörden von Delhi ein Vogelschutzgebiet eingerichtet.
Spärliche Hütten wie die von Saroj mussten dafür weichen. Seither schläft
ihre Familie im Freien. An diesem Morgen macht ein asiatischer Kuckuck
(Eudynamys scolopaceus) auf sich aufmerksam. Doch Saroj hört und sieht ihn
nicht. „Mich wecken die Tauben und Krähen“, sagt sie. „Die sind immer am
lautesten, sie gurren und krächzen in der ganzen Stadt, für sie braucht es
kein Vogelschutzgebiet.“ Für Saroj auch nicht. Eisvogel und Kuckuck, sagt
sie, habe sie noch nie bemerkt.
Sie hat ja nach dem Aufstehen gleich alle Hände voll zu tun. Schnell
sortiert sie ihren grünen Sari. Noch schlafen die anderen
Familienmitglieder auf den Pritschen ringsherum. Aber Saroj beginnt schon
für sie zu kochen. Ihr erster Handgriff gilt der Reisschüssel. Sie wäscht
den Reis und weicht ihn ein. Dann bereitet sie mit angeschwemmten
Bambushölzern, die von den Götterstatuen stammen, die an traditionellen
Festtagen massenhaft im Yamuna versenkt werden, ein kleines Feuer. Bald
kocht der Reis.
Jetzt hat Saroj einen Moment für sich und putzt sich die Zähne. Sie nimmt
den fingergroßen Stock eines am Flussufer wachsenden Baumes, schält rundum
einen Zentimeter Rinde ab und schiebt die Rinde durch ihre Zahnritzen. Sie
hat sich nie anders die Zähne geputzt – und diese glänzen noch. Doch vor
ihr an der Grundwasserpumpe liegt eine rote Tube Colgate-Zahnpasta. Die
benutzen alle anderen Familienmitglieder. Saroj könnte sagen, ihre Zähne
seien gut und ihre alte Putzmethode sei die bessere, aber das tut sie
nicht. Auch sie glaubt an Colgate. Den Stock nimmt sie nur, um Geld fürs
Essen zu sparen.
## Eine Unberührbare
Als der Reis fertig ist, beginnt sie Kartoffeln zu schälen. Es ist hell
geworden. Von ihrer Feuerstelle auf der Uferböschung kann Saroj auf den
Fluss schauen. Weit reicht ihr Blick. Drüben am anderen Ufer türmen sich
neue Hochhäuser auf. Dort liegt die Vorstadt Noida, die nicht mehr zu
Delhi, sondern zu Indiens größtem Bundesstaat Uttar-Pradesh zählt. Saroj
stammt aus einem armen Dorf in Uttar Pradesh, doch schon im Alter von 15
Jahren zog sie in die Slums von Delhi, in eine Hütte nicht weit von der
Stelle, an der sie heute lebt.
Inzwischen ist sie 40 und Mutter von sieben Kindern, doch noch immer eine
Unberührbare, eine Kastenlose, deren Status ihr das Leben schwer macht.
„Wir bekommen seit 20 Jahren keine Lebensmittelkarte“, sagt Saroj und
schaut sehnsüchtig über den Fluss. Dort, in Uttar Pradesh, hat in den
letzten fünf Jahren eine Unberührbare, die Ministerpräsidentin Mayawati,
regiert, bis sie im vergangenen März die Wahlen verlor. „Mayawati hat viel
für die Leute auf der anderen Seite des Flusses getan“, sagt Saroj.
Es ist das erste und einzige Mal an diesem Tag, dass sie über Politik
spricht. Es hat damit zu tun, dass die Männer der Familie immer noch
schlafen. Wer weiß, ob sie sich sonst trauen würde, über Mayawati zu reden.
Denn die war sehr umstritten, baute sich selbst Villen und Paläste. Und
nahm keinerlei Rücksicht auf die Umwelt. Aber sie kümmerte sich um Gelder
für die Unberührbaren, daran denkt Saroj jetzt für kurze Zeit. Unter
Mayawati hätte sie bestimmt eine Lebensmittelkarte bekommen. Mehr würde sie
von der Politik nicht verlangen. Sie käme gar nicht darauf.
Das Leben drüben in den Hochhäusern kann sie sich nicht vorstellen. Sie hat
nie Elektrizität und fließend Wasser gehabt, geschweige denn eine Toilette.
Da fällt ihr ihre Tochter ein. Sie arbeitet als Hausmädchen in einer
Wohnung mit Strom, Wasser und WC. Saroj beneidet ihre Tochter darum. Jetzt
aber muss sie die Tochter wecken, damit sie ihr vor der Arbeit noch helfen
kann.
## Drei Stunden kochen
Poonam Saroj ist 14 Jahre alt. Als vor zwei Jahren der Vater starb, brach
sie die Schule ab. „Der Tod des Vaters hat ihr das Herz gebrochen“, sagt
die Mutter. Seither arbeitet Poonam den ganzen Tag – wie ihre Mutter.
Allerdings putzt sie sich nach dem Aufstehen zuerst die Zähne. Erst dann
beginnt sie mit ihren Haushaltsaufgaben und baut oben an der Straße einen
kleinen Verkaufsstand auf. Die Mutter kocht derweil Tee und backt Roti, das
indische Fladenbrot. Außerdem manscht sie die Kartoffeln mit getrockneten
Chiliflocken.
Als die Sonne über dem Fluss aufgeht, drückt sie ihrer Tochter liebevoll
ein Brot mit dünn bestrichenem Kartoffelbrei in die Hand. Weil Poonam
arbeiten geht, ist sie die Einzige, die Frühstück bekommt. Alle anderen,
die Saroj beköstigt, bekommen morgens nur Tee: die alte Schwiegermutter,
die beiden erwachsenen Söhne, der Schwager und die jüngste Tochter. „Der
Morgentee ist der beste“, sagt Saroj und überspielt damit den Hunger ihrer
Familie.
Dreieinhalb Stunden kocht Soraj jeden Morgen, ohne dabei einen Bissen zu
verzehren. „Nie werde ich vor acht Uhr mit der Küche fertig“, sagt sie.
Weil sie so wenig hat, ist das Essen besonders wertvoll, dauert das Kochen
besonders lange. Sie wäscht geduldig jede kleinste Menge Reis, sie knetet
endlos jede Handvoll Roti-Teig. Doch zwei Mahlzeiten am Tag, wie Soraj sie
zubereitet, sind trotzdem nicht genug. Wie 87 Prozent aller Inder – schon
das sind fast eine Milliarde Menschen – lebt Soraj von weniger als 2.100
Kalorien am Tag.
Seit den 70er Jahren gilt diese Kalorienmarke in Indien als Grenze zu
Unterernährung und Hunger. Nie haben so viele Inder unterhalb dieser Grenze
gelebt wie heute. Sie alle haben auf die Frage, für was sie das meiste Geld
ausgegeben, die gleiche Antwort wie Saroj: fürs Essen.
## Alles dreht sich ums Essen
Alles dreht sich bei Saroj ums Essen. Den ganzen Tag lang. Bald hat sie das
Zubereitete in Papier eingewickelt und in Blechbüchsen verstaut. Jeder
bekommt eine Tagesration. Dann geht Saroj mit ihren zwei erwachsenen Söhnen
aufs Feld. Auf freiem Ufergelände, das in der Monsunzeit überschwemmt ist,
bauen Saroj und ihre Söhne Chili und Bohnen an. Wem das Land gehört, wissen
sie nicht. An diesem Tag spritzen sie die Bohnen. Sie haben am Vortag in
der Apotheke eine Flasche Insektenvernichtungsmittel und eine Plastiktüte
voll mit geöffneten, zerdrückten Medikamentenpackungen gekauft.
Die Tüte sieht wie eine Abfalltüte aus. Doch Saroj glaubt, dass ihr
Apotheker die Medikamentenreste extra für den Pflanzenschutz
zusammengestellt hat. Sie löst Psychopharmaka und Pillen gegen Fieber,
Erbrechen oder Magenübersäuerung aus ihrer Verpackung. Es sind Hunderte,
alle sollen sie ihren Bohnen helfen. Mit einem alten Schraubschlüssel
stampft Saroj sie zu einem orangen Puder. Dann mischt sie Insektizid,
Waschpulver und Flusswasser hinzu. „Sei vorsichtig!“, ruft der älteste
Sohn, als er den Spritzkanister schon auf dem Rücken trägt und sein
jüngerer Bruder ihm die Giftbrühe in den Kanister füllt.
Saroj und ihre Söhne glauben fest, dass sie ihren Bohnen etwas Gutes tun.
Den ganzen Vormittag spritzen sie. Dann gibt es das Mittagessen aus den
mitgebrachten Büchsen. Am Nachmittag wässert Saroj die Chilibüsche, während
die Söhne zehn Kilo der frisch gespritzten Bohnen ernten, die sie noch am
gleichen Tag auf dem Markt verkaufen. Der Gedanke, dass die Bohnen wegen
des Gifts ungesund seien könnten, kommt ihnen nicht. Sie sind schließlich
das Wertvollste, was sie besitzen. Viel zu wertvoll für den Eigenverzehr.
## Schaum auf dem Fluss
Ein unerwarteter Platzregen treibt Saroj vom Feld zurück zu ihrer Hütte.
Den ganzen Tag musste Saroj bisher den Gestank des Flusswassers und der
Müllkippe hinter der Uferböschung einatmen. Doch nun reinigt der Regen die
Luft, und die Tageshitze kühlt ab. Das passiert im heißen Juni in Delhi
sehr selten. Am nächsten Tag werden die Zeitungen davon berichten. Saroj
bemerkt die gute Luft nach dem Regen nicht. Sie stöhnt auch nicht über die
Hitze. Sie beschwert sich nicht über den Gestank. Sie klagt überhaupt nicht
viel.
Wenn man aber eine Klage von ihr hört, dann betrifft sie stets das teure
Essen. Entweder fehlt ihr die Lebensmittelkarte, oder die Linsenpreise sind
zu hoch. „Manchmal kann ich nur eine Mahlzeit am Tag kochen“, sagt Saroj.
Bevor sie das Abendessen bereitet, verweilt sie einen Moment am
Verkaufsstand an der Straße, den ihre verheiratete älteste Tochter tagsüber
führt. Die Frauen schwätzen von den Heiratsplänen der Nachbarn. Saroj
schaut wieder auf den Fluss. Er ist seit morgens von Schauminseln bedeckt,
die wie treibende Eisberge aussehen. Saroj lacht über die Idee, dass die
Schaumberge wie Eisberge aussehen. Aber sie stimmt ihr zu.
Was würde es ihr helfen, wenn der Fluss sauber wäre? „Dann könnten wir
baden gehen“, entgegnet Saroj. Das erste Mal an diesem Tag denkt sie nicht
nur an Essen oder Arbeit, sondern an ein Vergnügen. Aber genau das zeigt,
wie weit weg für sie die Sauberkeit des Yamuna im Grunde ist.
Wie sie die Umwelt retten kann, darf man Saroj nicht fragen. Sie hat den
ganzen Tag über Wichtigeres zu tun.
18 Jun 2012
## AUTOREN
Georg Blume
## ARTIKEL ZUM THEMA
Große Ernteausfälle in den USA: Katastropengebiet Vereinigte Staaten
Die heftigste Hitzewelle seit 70 Jahren führt in den USA zu Problemen bei
der Lebensmittelversorgung. Aber auch in vielen anderen Ländern ist die
Versorgungslage prekär.
Soziales Gesundheitsprogramm: Indien verärgert Pharmakonzerne
Es ist ein schwerer Rüchschlag für westliche Pharmakonzerne. Indien sieht
die kostenlose Abgabe nachgeahmter Medikamente, sogenannter Generika, vor.
Kicken statt Unabhängigkeitskampf: Spiel um dein Land!
Alle reden von der EM. Doch im indischen Nagaland wird Fußball gespielt,
der Frieden stiftet. Über die politischen Verheißungen der sportlichen
Globalisierung.
Ökobewegung in der Krise: Kampf der Langweiler
Auf der McPlanet-Klimakonferenz diskutieren Umweltverbände über
Möglichkeiten einer Einflussnahme auf die Politik. Die Bewegung stecke in
der Krise, sagen Aktivisten.
Abholzungen in Indien: Rodungen bedrohen Bergwelt
Der Wirtschaftsboom frisst eines der wichtigsten Ökosysteme der Erde. Eine
lokale Organisation will Artenvielfalt und sauberes Grundwasser im
Alleingang erhalten.
Deutsch-indische Liebe mit Hindernissen: In Gottes Namen
Sie lernen sich beim Yoga kennen: der indische Priester Anthony Lobo und
die Deutsche Marina Alvisi. Er bricht mit der Kirche, und die bricht mit
ihm. Jetzt kämpft er um seine Pension.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.