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# taz.de -- Kicken statt Unabhängigkeitskampf: Spiel um dein Land!
> Alle reden von der EM. Doch im indischen Nagaland wird Fußball gespielt,
> der Frieden stiftet. Über die politischen Verheißungen der sportlichen
> Globalisierung.
Bild: Die Kinder und Jugendliche aus Nagaland, östlich vom Himalaya ziehen Kic…
Morgens um sieben springen die Fußballer auf den Bus: zuerst Jesse Aschumi,
der mit dem Irokesenschnitt. Jesse schnappt sich den Vordersitz und
schließt sein Handy an die Musikanlage an. Country-Musik ertönt. Dann kommt
Kapitän Asito Krose.
„Guten Morgen, ich heiße fast wie Klose“, stellt sich der 19-Jährige mit
Punkerfrisur vor. Die Anspielung auf den deutschen Fußballer Miroslav Klose
ist eingeübt. Neben ihn setzt sich Tepongmeren Kichu, genannt Meren. Meren
wirkt noch etwas verschlafen. „Ich habe heute die falsche Haarfarbe
benutzt“, entschuldigt er sich – die Haare sind jetzt rot.
Endlich fährt der Bus los. Jesse spielt „Leaving on a jetplane“, den
Uralthit von John Denver. Die drei singen mit. Sie sitzen im Vereinsbus der
Kohima Komets, der ersten professionellen Fußballmannschaft von Kohima, der
Hauptstadt Nagalands. Sie sind lokale Stars. Früher waren das die
Unabhängigkeitskämpfer, heute sind es Fußballspieler wie Jesse, Asito und
Meren. „Wir Nagas sind Krieger. Der Fußballplatz ist unser neues
Schlachtfeld“, sagt Jesse todernst. Dann singt er wieder mit.
Nagaland liegt in den grünen Vorbergen des östlichen Himalaja und ist ein
Bundesstaat Indiens. Doch die Nagas fühlen sich in Indien mindestens so
fremd wie die Tibeter in China. Auch sonst haben sie viel mit ihren
tibetischen Nachbarn gemein. Beide Völker wurden jahrzehntelang auf brutale
Weise von einer Großmacht erobert, verfolgt und gedemütigt. Nur sind die
sechs Millionen Tibeter und ihr Freiheitskampf in der Welt berühmt, während
die vier Millionen Nagas kaum jemand kennt. Sie galten lange Zeit als
Wilde, lebten im Dschungel, jedes Dorf für sich.
Ihre Männer sammelten menschliche Totenköpfe als Trophäen – kaum hundert
Jahre ist das her. Erst dann setzten sich amerikanische Missionare durch
und machten aus den Nagas tiefgläubige, naive Baptisten. Das stimmte sie
freundlich gegenüber dem Westen, schützte sie jedoch nicht vor den Indern,
die Nagaland eroberten, das Land teilten und mit bengalischen Flüchtlingen
aufmischten. Die Nagas antworteten mit einem Guerillakrieg, den sie den
„62-jährigen naga-indischen Krieg“ nennen.
## Nagaland in Afrika
Auf dessen Höhepunkt in den 50er und 60er Jahren ermordete die indische
Armee Hunderttausende Nagas und brannte Hunderte ihrer Bergdörfer nieder.
Doch kaum jemand nahm je von dem Völkermord Notiz. Daran änderte auch ein
seit 1997 andauernder Waffenstillstand zwischen Armee und Guerilla nichts.
Bis heute kennen die meisten Inder von Nagaland nicht mehr als den Namen,
während im Westen viele das Land in Afrika vermuten.
Die jungen Fußballstars aber scheint das nicht mehr zu stören. Sie sind
jetzt selbst wer, nämlich Profis in Nagalands erster Fußballprofiliga, die
in diesem März startete. Nagaland Premier League (NPL) heißt die Liga, von
der in der kleinen Bergstadt Kohima große Werbeplakate künden. Der Bus mit
den Spielern fährt direkt an einem solchen Plakat mit ihren Konterfeis
vorbei. Daneben steht ein ebenso großes Plakat der deutschen Sportfirma
Adidas, das den portugiesischen Fußballer Cristiano Ronaldo zeigt. Der ist
das Ziel der Jungs. Sie wollen werden wie Ronaldo. „Er ist mein
Lieblingsspieler“, sagt Kapitän Asito.
In den engen Gassen von Kohima schauen schon am frühen Morgen alle den
Jungs nach. Ihr nagelneuer Bus in den Vereinsfarben Gelb-Schwarz fällt im
Gewühl der Drei- und Zweiräder auf. Wo er hält, herrscht aufgeregtes
Menschengedränge. Es ist der Tag des wichtigsten Heimspiels der Saison. Am
Nachmittag um 14 Uhr werden die Kohima Komets auf den Tabellenführer der
NPL treffen. Vorher ist am Morgen noch eine Trainingseinheit angesetzt.
Jesse nimmt seine Plastiktüte mit den Puma-Stiefeln und läuft auf den
grünen Rasen des Indira-Gandhi-Stadions von Kohima. Es liegt direkt
unterhalb eines Truppenstützpunktes der indischen Armee. Bis heute hat
Indien 100.000 Soldaten in Nagaland stationiert, die sich wie eine
Besatzungsmacht aufführen. Dafür sorgen ständige Kontrollen und
Patrouillen. „Freunde der Bergvölker“ nennen sich die Soldaten, so steht es
in großen Buchstaben über der Tribüne des Stadions. Doch Jesse schaut nicht
mehr auf, ärgert sich nicht über die Soldaten, hat schon den Ball am Fuß.
Er denkt ans Schießen wie seine Väter, aber nur noch mit dem Ball ins Tor.
## Verhandlungen mit Delhi
Das ist die Idee, die hinter den Kohima Komets steckt: Fußball statt Krieg
und Unabhängigkeitskampf. Weil Fußball junge Männer wie Jesse fasziniert,
die sonst zu den Waffen greifen könnten. „Wir stecken mitten in
Verhandlungen. Wenn sie scheitern, kann morgen wieder der Krieg
ausbrechen“, sagt Richard Belho, der Gründer und Chefmanager der Komets.
Belho ist ein 36-jähriger Internetunternehmer und Architekt. Er hat in
Indien studiert. Wie die meisten Nagas hat er den größten Teil seines
Lebens im Krieg gegen Indien verbracht. Doch er selbst glaubt nicht mehr an
die Unabhängigkeit der Nagas. Er hält den Guerillakampf für sinnlos. Umso
wichtiger ist ihm sein Fußballverein. Er will zeigen, dass die Nagas mit
mehr als nur Gewehren kämpfen können. Er will, dass die Jugend über den
Tellerrand blickt, zum Beispiel zu den großen Fußballvereinen in München
und Barcelona. Alle seine Spieler haben ihre Lieblingsvereine in Europa.
Deshalb hat Belho den Reporter als Fußballtrainer eingeladen. Die Jungs
hatten noch nie einen europäischen Trainer. „Dir glauben sie!“, sagt Belho.
Doch das ist nicht so einfach. Die Komets sind ein Team aus jungen und
älteren Spielern. Die Jungen sind begeistert, wenn man sie in kleinen
Gruppen das moderne Kurzpassspiel lehrt. Sie wissen, dass Spanien damit
Weltmeister wurde. Doch dieses Training fordert viel Geduld und Disziplin.
Es geht darum, wie man den einfachen Pass mit hundertprozentiger Sicherheit
spielt. Die älteren Spieler aber empfinden solches Training als
Kinderspiel. Sie wollen lieber lange Flanken und Kopfbälle üben. Sie
glauben an ihr Können.
## Besser als Kricket
Kapitän Asito ist nach dem Training am Morgen des großen Spieltags
verärgert. „Ich habe einfach keine Kontrolle über diese Mannschaft“,
schimpft er, „sie ist undiszipliniert.“ Genauso wie Asito seine Mannschaft
angeht, kritisiert Manager Belho die Nagas im Allgemeinen. Sie seien zu
wechselhaft, nicht ausdauernd und unberechenbar. Früher hätten sie als
Dschungelkrieger immer gleich zugeschlagen. Jetzt müssten sie langfristig
denken. Deshalb fiele es ihnen so schwer, die Chancen der Globalisierung zu
nutzen, die sich ihnen heute jenseits der Unterdrückung durch Indien
bieten.
Doch Belho ist weiterhin davon überzeugt, dass Fußball das beste Mittel
ist, um die Nagas aus ihrer Besatzungslethargie zu befreien. Früher
versuchte er mit Tischlerprojekten und Internetforen die Jugend zu
gewinnen. Doch Fußball ist konkurrenzlos in Nagaland. Jedes Dorf hat hier
eine Kirche und einen Fußballplatz, auf dem den ganzen Tag die Kinder und
am Abend die Männer spielen.
Unter der Woche unternimmt Belho eine Tour zu ein paar abgelegenen
ehemaligen Guerilladörfern, um dort an Schulen neue Fußballtalente zu
sichten. Die Jungs dort wissen nicht, woher der Fußballsport kommt. Aus
China?, fragen sie. Doch sie haben alle ihre großen Idole: Messi. Ronaldo.
Thomas Müller. Wie Glaubensbekenntnisse sprechen sie diese Namen. Sie haben
Fußball immer als ihr ureigenes Spiel und nicht etwa als westlichen
Kulturimport empfunden.
Die Dorfalten erinnern sich sogar noch, wie ihre Väter wahlweise mit
Rinderblasen, großen Citrusfrüchten und geflochtenen Bambusbällen spielten.
Als hätten die Nagas immer schon Fußball gespielt. Natürlich liegt in
dieser Vorstellung auch der Wunsch nach Abgrenzung gegenüber dem
Kricketland Indien.
## „Here we go again“
Doch der Weg in den Fußballhimmel ist weit. Das bekommen an diesem Tag auch
die Kohima Komets zu spüren. Zwar ist das Stadion von Kohima am Nachmittag
voll besetzt mit Fans, die ihre Mannschaft ordentlich anfeuern, doch der
Tabellenführer kombiniert einfach besser. Besonders Asito will auf dem
Platz nichts gelingen. Am Ende muss seine Mannschaft über ein torloses
Unentschieden glücklich sein.
Auf der Rückfahrt ist die Stimmung im Bus gedrückt. Doch dann schmeißt
Jesse wieder die Musikanlage an. Diesmal ein Lied von James Blunt: „Here we
go again“. Das rüttelt alle wieder auf. Kein Zweifel: Die junge
Fußballnation Nagaland hat noch viel vor.
27 Jun 2012
## AUTOREN
Georg Blume
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