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# taz.de -- Debatte um Torrichter und Technik: Platini und das Seufzen der Krea…
> Die Aufregung um das nicht anerkannte Tor der Ukrainer verkennt: Michel
> Platini mag ein zweifelhafter Funktionär sein, aber er bewahrt die Werte
> des Menschlichen.
Bild: Der gottgleiche ungarische Schiedsrichter Viktor Kassai, der nicht sah, w…
Das Wörtchen „Tatsachenentscheidung“ verleiht allen Schiedsrichtern auf den
Fußballplätzen eine Macht, die jenen von Göttern gleich kommt: Sagt der
höchste, um einen Begriff aus der Betriebswirtschaftslehre zu nehmen,
Supervisor einer Partie, dass ein Tor keins war oder befindet er, dass
einer zu schroffen körperlichen Einsatz gezeigt hat und mit einen Roten
Karte aus dem Spiel genommen werden muss, dann sind Zweifel „strukturell“
(Claude Lévi-Strauss) nicht vorgesehen. Was der Leiter einer Partie
entscheidet, macht Fußball zu einem ethnologischen Sonderfall (Clifford
Geertz).
Jetzt soll die Macht der Technik (Michel Foucault im Allgemeinen)
herangezogen werden. Das Technische, das uns Atom und Krieg eingebrockt
hat. Das, was Menschen von sich abspalten – die Einsicht, nicht alles
erkennen zu können. Nun soll die Entscheidungspotenzialität des Humanen
durch Apparate entlastet und somit auch geschwächt werden.
[1][Die ukrainische Tragödie (Sophokles) vom Dienstag], so muss der Diskurs
begriffen werden, wird nun dazu benutzt, um die seelischen Abgründe nach
Fehlbefunden zu verflachen. Lediglich dazu, auf dass ein Schiedsrichter und
seine Assis nicht mehr alles für Augenschein prüfen und verantworten
müssen: War der Ball drin oder nicht? Ja, wird der Fußball, bald womöglich
von Torkameras umstellt, ein gerechterer? Eine Disziplin der Unfehlbarkeit
sui generis?
## Derrida, Lacan, Platini
Die Meute des Mainstreams, der sich jetzt alle Opfer (Oleg Blochin, Sepp
Blatter, Wolfgang Niersbach) und möglichen Opfer (Manuel Neuer, Sami
Khedira, Felix Magath) anschließen, sonst wäre er kein Mainstream, fordert
wie ein empörter Klagechor griechischer Provenienz: Nicht mehr Menschen
sollen entscheiden dürfen, ob ein Ball die Linie passiert hat oder eben
nicht, sondern eine kalte Maschine (Klaus Theweleit, hierzu auch Martin
Heidegger), die entweder aus einer amerikanischer Erfindung entstammt oder
aus den Mühen in einer deutschen Forschungsstube herrührt. Hawk Eye (wie
beim Tennis also, dramatisiert über Videoeinspielungen nach einer
fragwürdigen Spielszene) oder ein (von Kindern in der Dritten Welt?)
eingenähter Chip im Ball.
Alle dreschen jetzt auf Michel Platini ein und möglicherweise spielen in
das Belfern und Bölken wider den Uefa-Chef auch Befindlichkeiten ob dessen
Taktlosigkeit ein, die darin bestand, bei einem Spiel in der Ukraine sich
menschenrechtsignorant (Human Rights Watch) auf der Ehrentribüne neben den
Präsidenten des Landes, Wiktor Janukowitsch, gesetzt zu haben.
Dabei sagt dieser Franzose, philosophisch aus der Tradition Jacques
Derridas und Jacques Lacans stammend, mithin das Reale, das Symbolische und
das Imaginäre für eine weltliche Trias der Tauglichkeit haltend nur dies:
„Man braucht solche Systeme nicht, Technik, Satellit, GPS oder Chip im
Ball.“
Sagt er damit nicht auch, könnten Kritiker aus der Denktradition des
Pragmatischen wie John Rawls einwenden, dass er das Offenkundige - Ball im
Tor, jeder Idiot kann das sehen, 1966 in Wembley, 2010 Frank Lampard gegen
Deutschland, am Dienstag in Donezk – nicht sehen will? Dass das menschliche
Maß ein Unmenschliches hervorbringen kann? Dass England, weil Nutznießer
fehlbar-menschlicher Urteile, unrechtmäßig gewonnen hat? Und dass die
Freude der Engländer zulasten der Ukrainer geht, weil die diesen Treffer
für sehr lange, um nicht zu sagen: für ewig als Beweis für die Arroganz der
Reichen Europas nehmen können, ja: müssen?
## Hegel, Marx, Platini
Steht, mit anderen Worten, Platini nicht für den letzten Protest, das
Seufzen der bedrängten Kreatur (Hegel, Marx) gegen die weitere
Maschinisierung des Menschlichen (auch: Heidegger), für die Mechanisierung
der Kinder Gottes (Paul Tillich, Dorothee Sölle)? Lugt aus dem Beharren des
Uefa-Chefs, dieser Figur aus dem Reich des Spontanen und Phantasievollen,
gleichwohl nicht ebenso ein Dementi auf die weitere Zurichtung des Spiel
auf die Dezisionen des Ingenieurshaften? Gibt es denn niemand, der in
seinen Worten ein Plädoyer für das Zufällige und damit auch das Ungerechte
lesen würde?
Wäre es nicht besser, auf das Unbestechliche zu verzichten wie einst im Mai
'68 in Paris und auf das Ungefähre zu pochen? Liegt im Vagen nicht auch ein
Spiel(!)raum für die menschliche Phantasie? Muss er nicht, nachgerade in
Kontingenz zum Modus des Kritischen wie bei Adorno, als Advokat eines
spielerischen Geflechts von Lust und Launen gelesen werden? Als Held gegen
die Verarbeitsteiligung der Welt – hier das Spiel der Menschen, dort das
Apparathafte der Entscheidungen über sie – zugunsten einer Kultur des
Ganzheitlichen?
## Schmitt, Butler, Blatter
Okay, diese Ins-Recht-Setzung (Carl Schmitt) eines vielleicht auch dubiosen
Funktionärs durch ein paradoxes Sprechen (Judith Butler) des Anderen mag
Romantikern abwegig scheinen. Tor ist Tor, bitte schön – und wenn eine
Maschine das besser klärt als eine Kohorte von Menschen (Elisabeth
Nölle-Neumann), soll das gut sein.
Biathlon und Leichtathletik und Formel-Eins-Autofahren gehen doch auch
nicht ohne Stoppuhren und schärfste Messeinheiten, ja, ohne Technik wären
sie nichts und nichtig als Performierende - alberne Gestalten, die
bewaffnet durch einen winterlichen Wald laufen, halbnackte Figuren, die auf
Tartanbahnen laufen und so tun, als ginge es nur um Sport, Irre, die
besonders schnell kuppeln und tanken können. Kurzum: es ist ambivalent. Da
ist er wieder, der Januskopf der Moderne (Sören Kierkegaard, Hannah
Arendt).
Schwer zu entscheiden das, oder? Wahrscheinlich wird die grünalternative,
ja, linke Idee, das Ganzheitliche zu wertschätzen, wieder nicht gewinnen
können. Nie wendet sich etwas zum Guten, alles droht an Krise und
Verderbnis zu verenden. Blatter, der Darth Vader des Fußballs, wird
gewinnen.
Wir werden schon in Brasilien Torkameras erleben können – und die Ukraine
kriegt die nächste Chance. Wir als Publikum, machtlos natürlich, können
dann diese Entfremdung vom Menschlichen nur registrieren. Oder gleich
vergessen. Und genießen, dass es nichtgegebene Tore nicht mehr gibt. Das
wäre dann die Entfremdung schlechthin, die klassische: Wir werden
unterdrückt und merken es nicht einmal.
21 Jun 2012
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## AUTOREN
Jan Feddersen
Jan Feddersen
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