| # taz.de -- Zugfahren in der Ukraine: Reisende als Versuchskaninchen | |
| > Die Ukraine will ihr Transportsystem „europäisieren“ – mit zehn | |
| > Schnellzügen aus Korea. Doch die sind zum Ärger der Bahnfahrer häufig | |
| > verspätet und defekt. | |
| Bild: Zur EM gibt's auch neue Züge in der Ukraine. | |
| BERLIN taz | Pünktlich zur EM hat auch die ukrainische Bahn (Ukrsalisnyzja) | |
| nachgerüstet. So verkehren seit Kurzem sechs neue Intercitys der Marke | |
| Hyundai zwischen den Austragungsorten. Doch von schöner und schneller | |
| Reisen mit den insgesamt zehn koreanischen Schnellzügen, die die Regierung | |
| für umgerechnet 236 Millionen Euro gekauft hat, kann keine Rede sein. | |
| Stattdessen sind Verspätungen und technische Probleme an der Tagesordnung. | |
| "Ich fuhr von Kiew nach Charkow mit dem neuen Zug. Auf der Rückreise | |
| stoppte er zweimal, und der zweite Halt dauerte 40 Minuten. In Kiew kamen | |
| wir mit fast anderthalb Stunden Verspätung an", erzählt der Journalist Igor | |
| Tupikin. | |
| Die Ukrsalisnyzja verpflichtet sich offiziell, für jede Verspätung von mehr | |
| als 30 Minuten Schadenersatz zu zahlen. Igors Erfahrungen waren da etwas | |
| anders: "Per Lautsprecheransage teilte man uns mit, dass wir uns wegen der | |
| Schadenersatzforderung an das Bahnpersonal wenden sollten. Nach der Ankunft | |
| ging ich rein aus Neugier zum Schalter. Da standen nur ein paar meiner | |
| Mitreisenden. Die Bahnangestellte erläuterte uns, wo wir einen | |
| schriftlichen Nachweis über unsere Verspätung erhalten können. Von | |
| Schadenersatz kein Wort." | |
| Die Ukrsalisnyzja begründet die Verzögerungen mit der Störung von | |
| Bordcomputern. Das Bahnpersonal hat offensichtlich mit der Bedienung der | |
| koreanischen Geräte Schwierigkeiten. Igor Tupikin hat noch eine andere | |
| Erklärung: "Im Mai habe ich diese Züge noch im Hafen von Odessa stehen | |
| sehen - gerade in die Ukraine geliefert und noch in Zellophan verpackt. Sie | |
| wurden sofort in Betrieb genommen. In Russland wurde der Schnellzug Sapsan | |
| ein Jahr lang getestet. Und bei uns experimentiert man mit Menschen." | |
| ## Noch herrscht ein Testfahrplan | |
| Experimentieren wird man wohl noch bis zum Ende des Sommers. Die neuen Züge | |
| fahren jetzt nach einem Testfahrplan. Gleichzeitig hat die Ukrsalisnyzja | |
| die Zahl der Nachtzüge von Kiew nach Charkow, Donezk, Lemberg und in | |
| weitere Städte zugunsten der Intercitys reduziert. Nach Protesten von | |
| wütenden Bürgern wurden einige der gestrichenen Reiserouten wieder in den | |
| Fahrplan aufgenommen. | |
| Trotzdem ist die Tendenz klar. Laut Boris Kolesnikow, dem Minister für | |
| Infrastruktur, werden in den kommenden fünf Jahren alle Nachtfahrten | |
| gestrichen. Mit diesen Neuerungen versucht die ukrainische Regierung die | |
| Eisenbahn zu "europäisieren". Der österreichische Publizist Martin | |
| Leidenfrost reist seit zehn Jahren durch die Ukraine und das nur mit der | |
| Bahn. | |
| "Die sowjetischen Vierercoupés sind unglaublich praktisch, geräumig und | |
| unverwüstlich. Sie fördern die Geselligkeit. Will ich meine Ruhe haben, | |
| dann lege ich mich schon tagsüber auf das obere Bett, strecke mich aus und | |
| lasse die Landschaften an mir vorüberziehen. Wenn ich höre, dass bei der | |
| ukrainischen Bahn der Fortschritt Einzug halten soll, dann kann das nur | |
| Niedergang bedeuten und kulturelle Selbstverstümmelung." | |
| Verloren gehen allerdings nicht nur das postsowjetische Flair und der | |
| Liegewagenkomfort. In der Ukraine, dem flächenmäßig größten Land in Europa, | |
| können die Schnellzüge nur mit einer Höchstgeschwindigkeit von 160 | |
| Kilometern pro Stunde fahren. Mehr geben die maroden Gleisanlagen nicht | |
| her. | |
| ## Im Zug schlafen ist billiger | |
| Für viele Geschäftsreisende ist zudem eine Übernachtung im Zug | |
| preisgünstiger als in einem Hotel. Hinzu kommt, dass eine Fahrt im neuen | |
| Intercity mit 35 Euro deutlich mehr kostet, als in den Nachtzügen. In der | |
| Ukraine, wo das Existenzminimum bei 100 Euro liegt, ist dieser Preis für | |
| viele utopisch. | |
| Viel schneller als die neuen Intercitys setzen sich die Reformen bei der | |
| Ukrsalisnyzja durch. Ende Februar wurde die Umwandlung des staatlichen | |
| Unternehmens in eine Aktiengesellschaft angekündigt. Diese Umwandlung würde | |
| die Aufspaltung der Bahn in einzelne Branchen sowie die Privatisierung | |
| ermöglichen. Derzeit ist der Reiseverkehr ein Zuschussgeschäft und wird vom | |
| Staat subventioniert. Demgegenüber werden mit dem Güterverkehr Profite | |
| erwirtschaftet, die diese Verluste teilweise ausgleichen. Das wird künftig | |
| nicht mehr der Fall sein. | |
| Der ehemalige ukrainische Verkehrsminister Jewhen Tscherwonenko stimmt der | |
| Notwendigkeit von Reformen zu, findet jedoch, dass die Akzente anders | |
| gesetzt werden müssten. "Vor allem brauchen wir ein Programm für eine | |
| umfassende Modernisierung der Infrastruktur. Sonst werden auch die neuen | |
| Hyundais niemals schneller als 160 Kilometer pro Stunde fahren können. Wenn | |
| sich das nicht ändert, wird der Reiseverkehr auch in Zukunft nicht | |
| profitabel sein", sagt er. Generell kritisiert der Exminister, dass | |
| Bahnreformen in der Ukraine bislang nicht nachhaltig gewesen seien. | |
| Tscherwonenko ist fest davon überzeugt, dass es zu einer Privatisierung der | |
| Lastentransportbranche kommen wird. Er findet die Aufspaltung der | |
| Ukrsalisnyzja in verschiedene Branchen richtig. Das bedeutet jedoch auch, | |
| dass der Personenverkehr in staatlicher Hand bleibt und noch höhere | |
| Verluste auf den Gleisen eingefahren werden. Weiter steigende | |
| Fahrkartenpreise werden die Folge sein. Und so werden viele ukrainische | |
| Bürger wahrscheinlich auf Busse und Marschrutkas (Sammeltaxis) umsteigen | |
| müssen. | |
| 24 Jun 2012 | |
| ## AUTOREN | |
| Katerina Mishchenko | |
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