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# taz.de -- Die Deutschen nach dem Halbfinale: „Was für ein harter Kopf!“
> Die Stimmung im Land ist verständlicherweise eher bedrückend. Im Kongo
> allerdings wird die Galavorstellung von Mario Balotelli ehrfürchtig
> bejubelt.
Bild: Es hat nicht sollen sein.
Berlin-Kreuzberg I: Die Kneipe Südblock verspricht eine „Nationalhymnen und
-flaggen freie Zone“. Ohne Schland-Gesänge und Winkelemente verfolgen hier
mehrere hundert Menschen das Aus der Löw-Elf. Doch Deutschland-Gegner haben
sich kaum versammelt. Als der Schlusspfiff ertönt, erlischt das
Stimmengewirr für einen Moment. Die Mimik der Besucher ist nicht von
Verzweiflung gezeichnet, sondern verrät die Überraschung über das
unerwartete Ergebnis.
Man ist enttäuscht, aber getröstet werden muss hier niemand. Als ein
Italienfan am nahen Kottbusser Tor mit seinem beflaggten Auto laut hupend
einige Runden um den Kreisverkehr dreht, erntet er freundliche Blicke. Nur
ein einsamer Deutschlandfan, der in seinem zu großen Trikot auf den Bus
wartet, schaut traurig hinterher. Schwarz-Rot-Gold ist an diesem Abend in
Kreuzberg kaum noch zu sehen. Waren die Balkone und Autos nicht noch am
Vormittag geschmückt?
Wer weiß das schon noch. Unvermittelt kehrt der Kiez in den Normalmodus
zurück. Von weitem grölt eine Gruppe den Stadion-Schlager „Seven Nations
Army“, der während des Spiels auch von den Italienfans in Warschau zum
Besten gegeben wurden. Doch die vermeintlichen Tifosi entpuppen sich als
jugendliche Touristen aus Süddeutschland. Alles wie immer. ERIK PETER
Berlin-Neukölln: Gegen Minute 70 zerreißt das Scheppern von Metall die
Stille. Ein bleicher Typ im Schlabbershirt kommt zu der Reihe Cardiogeräte
gerannt, wo sich ein paar versprengte Gestalten im nächtlichen
Fitnessstudio versammelt haben. Er verrenkt den Hals, um den Spielstand auf
dem winzigen Fernseher erkennen zu können und grunzt. Noch immer 0:2.
Pantomimisch deutet er an, den Bildschirm aus der Verankerung zu reißen und
auf dem Boden zu zertrümmern. Er dreht sich um und geht weiter pumpen.
Eine Gruppe pferdebeschwanzter Yoga-Mädchen mit schwarz-rot-goldener
Wangenbemalung galoppiert fröhlich schnatternd aus dem Kursraum zum
Fernseher. Verstummen. Dann trollen sich die Damen in die Kabine. Dann ist
es still – bis auf das rhytmische Quietschen des Trim-dich-Rads, auf das
eine mittelalte Lady wie hypnotisiert eintritt, und das gequälte Stöhnen,
das einem arg schwitzenden Mann auf einem Crosstrainer bei jedem Konter
Italiens entfährt.
Neben ihm erhöht ein Fleischberg urplötzlich das Tempo – parallel zu einem
Spurt von Lahm auf der Außenbahn. Bringt auch nichts. Der Fleischberg wirft
das Handtuch über die Schulter und geht. Das Ding ist gelaufen. Auf dem
Fernseher rechts daneben läuft arte. „Schuld und Sühne“. MEIKE LAAFF
Berlin-Kreuzberg II: Ich muss in meiner Stammkneipe beim Fußball immer
hinten im Eck sitzen,direkt an der Wand, damit ich niemandem im Weg sitze.
Weil ich so groß bin, aber auch, weil ich immer aufspringen muss, wenn es
ganz spannend wird. Am Donnerstag bin ich oft aufgesprungen. Meistens eher
aus Verzweiflung. Neben mir sitzen immer Gitte, Michael und dessen Frau.
Die hatte auf Italien getippt. Und dann auch gewonnen.
Das fanden viele Kreuzberger eigentlich gar nicht so lustig. Auch wenn sie
natürlich mächtig verständnisvoll taten und bloß nicht wollten, dass das
irgendwie rassistisch rüber kommen könnte. Auch als dann der Balotelli
immer so seine Muskeln gezeigt hat, blieben einigen doch die Kommentare in
der Currywurst stecken. Man muss dann ja auch aufpassen.
Als es in der Halbzeit von der Lokuswirtin Grappa gab, wollten aber schon
einige wissen, ob der denn aus Italien käme. Das war eigentlich auch nicht
wirklich ironisch gefragt, glaube ich. Nach dem Abfiff war dann alles ganz
schön schnell vorbei. Ich bin noch kurz bei meinem Lieblingsitaliener
vorbei, um zu sagen, dass ich jetzt erstmal nicht mehr komme. Gratuliert
habe ich nicht. Ist mir doch egal, ob die Italiener besser waren. Ich
finde, man kann im Sommer auch gut Riesling trinken. INES POHL
Wolfsburg: Das italienische Restaurant der Familie Curcuruto liegt mitten
in Wolfsburgs Fugängerzone und nach dem Spiel kamen viele vom Public
Viewing hier vorbei. „Vor der Tür war eine Menge los, aber die Leute waren
friedlich und ein bisschen traurig“, sagt Santina Curcuruto. Ausfallend sei
hier niemand geworden. Als Italien 2006 Weltmeister wurde, sah das noch
anders aus, erinnert sie sich. „Damals war die Stimmung deutlich
aggressiver und wir mussten uns viele Beleidigungen anhören.“ ILKA
KREUTZTRÄGER
Hamburg-Altona: Ein multikulturelles wie mustergentrifiertes Viertel voller
Lokalitäten des sogenannten Public Viewing: Aber auch Pizzadienste haben
viel zu tun, für die Daheimbleibenden. Hinterher, so schwört einer, sei
weder der Absatz für das Teigstück „Quattro Stagioni“ noch das der Varian…
„Formaggi è Prosciutto“ eingebrochen.
Was aber in den Keller stürzte, war die allgemeine sommerliche Heiterkeit,
die vor allem jene verströmten, die – mit allerlei schwarz-rot-goldenem
Partyflitterkram (hawaiiige Halskatten, leicht entflammbare Perücken etc.)
– sich pünktlich zum Anstoß irgendwo einfanden. Aus der aufgetriedelten
Stimmung wuchs in einer Halbzeit vordepressive Kühle der Gemüter – man
glaubt in der zweiten Halbzeit schlicht nicht mehr an ein, so ein
geografisch versierter Zeitungsverkäufer, „Wunder an der Weichsel“.
Man gab sich offenbar einfach auf! Keine Hupkonzerte hernach, keine
Schlägereien wider irgendwelchen Nächsten, keine Hassgesänge auf Italoides.
Anrufe in ähnlichen Vierteln der Republik besagten: Hier war es auch so
(Neukölln, Mülheim, Hasenbergl, Gaarden und so weiter). Die nächste
Communityplenum in zwei Jahren – dann, so sagte es eine erschöpfte Fanin um
Mitternacht, ist Brasilien der Anlass. Es klang genau jene Spur zu
erwartungsvoll-routiniert, die rein sportlich die Löw-Spieler verlieren
ließ. JAN FEDDERSEN
Kongo: Natürlich sind die Kongolesen alle für Italien. Der Grund heißt:
Ballotelli. „Was für ein harter Kopf!“ ruft voller Bewunderung ein füllig…
kongolesischer Professor, der eigentlich in Nigeria lebt, in der Bar am
Kivu-See im ostkongolesischen Goma nach dem ersten Kopfballtor des
Afrikaners.
„So schön poliert!“ Kongolesische Köpfe glänzen im Licht zwar auch, aber
keiner so brilllant wie der des schwarzen Italieners im Scheinwerferlicht
von Warschau. Ballotelli muss sich irgendwas Besonderes auf den Schädel
geschmiert haben, das ihm das Toreköpfen erleichtert, da ist sich das
kongolesische Publikum in der Nacht von Goma einig.
Nur einer von ihnen unterstützt Deutschland, aber eher aus Jux: er hat sich
zugleich Spaghetti bestellt, ein seltsames italienisches Gericht, dessen
Zubereitung im Kongo nahezu eine ganze Halbzeit dauern kann. Zumal, wenn
kurz vorher schwerbewaffnete kongolesische und ruandische Soldaten durch
das Hotelgelände schleichen, um irgendwelche wichtigen Persönlichkeiten zu
bewachen und kritisch Personal und Gäste zu mustern.
Als Ballotelli sich nach seinem zweiten Tor das Hemd vom Leibe reißt und,
als wäre er schon sein eigenes Denkmal, regungslos seine schweißtriefenden
schwarzen Muskeln ins gleißende Scheinwerferlicht stellt, kennt die
Bewunderung keine Grenzen mehr. So sehen afrikanische Sieger aus.
Ballotelli! Für wen spielt er nochmal? Egal. DOMINIC JOHNSON
BERLIN-MITTE: jährlicher Johannis-Empfang der evangelischen Kirche in
Deutschland auf dem Gendarmenmarkt. Großer Bahnhof, Gauck ist auch da, fast
alle Fraktionsvorsitzenden der Parteien im Bundestag, gute Reden, tolle
Musik (Bach!) im „französischen Dom“. Danach draußen Empfang mit
ordentlichem Wein, köstlichem Essen und viel Bier auf dem Gendarmenmarkt.
Da auch große Leinwand, extra eingerichtet, ca. 200 leute davor. Nach 2:0
sagt eine schicke evangelische Dame: „Scheiß Ittacker!“ Es bleibt unklar,
ob das ironisch ist. Nach Abpfiff nur Depression. Auch tröstliche
Bibelworte helfen nicht weiter. Fast alle verdrücken sich schnell nach
Abpfiff. PHILLIPP GESSLER
29 Jun 2012
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deutsche Aufstellung diskutiert.
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Wenn Mario Balotelli einen schlechten Tag hat, spielt Italien quasi zu
zehnt, wenn er einen guten Tag hat, zu zwölft. Gegen Deutschland erwischte
er einen sehr guten Tag.
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