# taz.de -- Panter-Preis-Nominierte 2012: Liebe braucht keine Bandscheiben | |
> Sandra Klatt-Olbrich will mehr Akzeptanz für Mütter mit Behinderungen. | |
> Deshalb hat sie eine Gruppe für Austausch und Unterstützung gegründet. | |
Bild: Die Gründerin der Selbsthilfegruppe „M Courage“: Sandra Klatt-Olbric… | |
In der offenen, klaren Küche von Sandra Klatt-Olbrich liegen auf dem Tresen | |
zehn Bücher, ganz oben „Die Korrekturen“ von Jonathan Franzen. Links des | |
massiven Holztischs steht ein Kamin. | |
Schön hat sie es in ihrem Haus in Hamburg, fast schon an der Grenze zu | |
Schleswig-Holstein. Ihr Dackel bellt und hört nicht auf. Ihre Wohnung | |
könnte auch in dem Magazin Schöner Wohnen auftauchen. Klatt-Olbrich ist | |
Mutter zweier Kinder, Ehefrau und seit Geburt körperlich behindert. | |
„Für mich war es ganz schwer, zu sagen: Ich bin behindert, ich habe einen | |
Schwerbehindertenausweis. Dieses Wort, ’behindert‘, hat so einen | |
Geschmack“, sagt sie und bereitet unterdessen Espresso vor. Jetzt kann sie | |
es einfach so sagen, „behindert“, es klingt wertfrei. Die Unterarmgehstütze | |
benutzt sie mal, mal nicht. Sie hält kaum still, setzt sich an den | |
Holztisch, schnappt sich wieder die Stütze: Sie hat die aufgeschäumte Milch | |
vergessen. Der Hund bellt wieder. | |
Klatt-Olbrich arbeitete jahrelang beim Öffentlich-Rechtlichen als | |
Journalistin, nun leitet sie „M Courage“, eine Gruppe in Hamburg für Mütt… | |
mit Behinderung oder chronischer Krankheit. Als Reporterin musste | |
Klatt-Olbrich einmal über einen Kühlturm berichten. Als sie auf der eisigen | |
Treppe stand, ihr Kameramann vor ihr, der Tonmann dahinter, war das der | |
Wendepunkt: „Da spürte ich meinen Rücken und meine Knochen. Das war der | |
Moment, wo ich dachte, du kannst nicht für immer den rasenden Reporter | |
machen.“ Sie hörte auf, ging zur Tagesschau, vermisste aber das | |
Reportersein. Weiter, weiter, immer weiter. | |
## Hilfe? Nein danke! | |
Sie wurde schwanger, bekam ihr Kind, stillte und ging danach zurück zur | |
Arbeit. Beim zweiten Sohn war alles anders. Sie spürte ihren Körper mehr. | |
Weiter, weiter, immer weiter – das ging nicht mehr. Sie musste in eine | |
Klinik und operiert werden. Die Ärzte schlugen ihr die Bandscheiben raus, | |
alles musste neu sein. Das ganze Metall im Rücken raus. Die Reha dauerte | |
ein Jahr. Sandra Klatt-Olbrich hörte auf, sie wollte für ihre Kinder da | |
sein. Der Dackel bellt wieder. | |
Jetzt sitzt sie in ihrem Haus, lacht viel. Gerade fordert sie in der Schule | |
ihres Sohnes einen Aufzug. „Die sagen, wenn jemand mit Behinderung da ist, | |
dann können wir doch helfen.“ „Helfen“ – dieses Wort stört Klatt-Olbr… | |
„Es ist kein selbstbestimmtes autonomes Leben, wenn Sie sechzehnmal am Tag | |
fragen müssen: ’Können Sie mich vorbeilassen? Wo ist eine | |
Behindertentoilette?` Das ist absolut würdelos und ist bei aller | |
politischen Korrektheit, die in der Gesellschaft propagiert wird, in den | |
Köpfen der Leute noch gar nicht angekommen“, sagt sie. | |
Man muss sich vernetzten, davon ist Klatt-Olbrich überzeugt. „Ich habe | |
diese entwürdigende Erfahrung gemacht, da kann man doch sofort Frauen | |
sagen: ’Das könnt ihr abkürzen. Das braucht ihr nicht zu machen, sondern | |
gleich so und so.‘ Dann habe ich bei der Beratungsstelle ’Autonom Leben‘ | |
angerufen.“ So entstand die Gruppe „M Courage“. | |
## Den Schmerz verstehen können | |
Die Beratungsstelle stellt die Räumlichkeiten zur Verfügung. Ein- bis | |
zweimal im Monat treffen sich rund zwölf Frauen dort zum Austausch. | |
Klatt-Olbrich will aber mehr Frauen erreichen. Vor allem die Frauen, die | |
nicht kommen können. | |
„Alleinerziehende Mütter, die sich keinen Babysitter leisten können, kommen | |
natürlich nicht zur Gruppe und leben dann in ihrer Isolation“, sagt sie. | |
Diese Frauen müsse man erreichen. Es gehe in der Gruppe darum, zu sagen: | |
Ich sehe dich, ich erkenne dich, und ich höre dir zu. Ich verstehe, was du | |
durchmachst. Ich verstehe den Schmerz, die Scham. | |
Schon wieder klingelt ihr Telefon. Und schon wieder das Hundebellen. Eine | |
Mutter aus dem Kindergarten ist dran, sie fragt, ob sie ihren Sohn | |
mitnehmen soll. Klatt-Olbrich organisiert ihren ganzen Tag durch, alles ist | |
strukturiert. Sie weiß, wofür sie wie viel Kraft braucht. | |
Eins der Probleme sei das Mutterbild in der Gesellschaft. „Eine Mutter hat | |
zu funktionieren, vital und kräftig zu sein, gebärfähig, gesund. Auf jeden | |
Fall hilft sie anderen und hat nicht selbst hilfsbedürftig zu sein. | |
Ansonsten hat sie nicht das Recht, Kinder in die Welt zu setzen – so denken | |
immer noch einige Leute“, sagt sie. Muss eine Mutter das? Sind | |
Geborgenheit, Liebe und eine Beziehung zum eigenen Kind nicht wichtiger? | |
Das sind die Fragen, die die 40-Jährige stellt – und damit eigentlich auch | |
schon beantwortet. | |
## Mit Rollstuhl an die Bar | |
Klatt-Olbrich weiß, es wird schlimmer werden mit ihrem Körper. Der | |
Degenerationsprozess. Deswegen will sie mit einer anderen Mutter aus der | |
Gruppe auch probeweise in einem Rollstuhl einen Einkaufsbummel machen. „Wir | |
wollen Sekt trinken an der Bar und uns über alles beschweren, was nicht | |
barrierefrei ist“, sagt sie. Doch so ganz einfach ist es mit dem Rollstuhl | |
auch für sie nicht. Es sei schon eine neuer Identifikationsprozess. | |
Doch Sandra Klatt-Olbrich will unbedingt mit den Kindern und ihrem Mann | |
nach Rom. Das ist ihr großes Ziel. „Meine Füße werden mich aber nicht | |
tragen“, sagt sie. Jetzt fährt sie erst mal für zwei Wochen mit der Familie | |
nach Griechenland, die Bücher auf dem Tresen kommen alle mit. Und | |
Klatt-Olbrich freut sich auf Jonathan Franzens neuen Roman namens | |
„Freiheit“. | |
## ■ im Internet | |
7 Jul 2012 | |
## AUTOREN | |
Enrico Ippolito | |
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