# taz.de -- Hells Angels und andere Rocker: Vision der Ausgestoßenen | |
> Aus dem freiheitssuchenden Outlaw ist ein Synonym für organisiertes | |
> Verbrechen geworden: Wie der Rocker zu dem wurde, was er ist. | |
Bild: In der Dagegen-Pose. | |
Mitte der Siebziger schrieb Udo Lindenberg mit seinem Song „Ich bin Rocker“ | |
einen Appell gegen Gewalt im Rockermilieu. Allerdings nehmen sich die | |
Rocker, die Lindenberg darin ermahnt, gegenüber den Kombattanten des | |
organisierten Verbrechens, die heute als Rocker firmieren, geradezu wie | |
Chorknaben aus. | |
„Manchen Rentner haben sie ausgeknockt und ihm die Kohle abgenommen“, singt | |
Lindenberg. Rentner zu beklauen, Schlägereien anzetteln, derartige | |
Lappalien wirft den Mitgliedern der Bandidos und den Hells Angels heute | |
niemand mehr vor, stattdessen geht es um Zwangsprostitution, Geldwäsche, | |
Folter, gar Mord. | |
Udo Lindenberg nennt sich heute immer noch Rocker. Schließlich: Rocker wie | |
er gingen nicht einfach in Rente, sagte er einmal. Und Joschka Fischer ließ | |
bei seinem Abschied von der Politik verlauten, mit ihm verlasse der letzte | |
Live-Rock-’n’-Roller die Politbühne. | |
Immerhin veranlasste Fischers Aussage den ehemaligen Verteidigungsminister | |
Peter Struck (SPD), am Ende seiner eigenen Karriere zu sagen: „Als Rocker | |
lasse ich mich gerne bezeichnen, immerhin bin ich Motorradfahrer.“ Außer | |
den Feuerstuhl haben Peter Struck und die tätowierten Stiernacken der Hells | |
Angels herzlich wenig gemein, als Rocker bezeichnen sich dennoch beide, was | |
uns zur eigentlichen Fragestellung führt: Was ist überhaupt ein Rocker? | |
Tatsächlich scheint das schwierig zu klären. Es geht schon los bei der | |
Frage, was den Rocker vom Biker unterscheidet. Günter Brecht schreibt in | |
seinem Szenebuch „Rocker in Deutschland“: „Rocker sind Kumpel, die in ein… | |
Gemeinschaft Freiheit suchen, sich jedoch ihrem Präsidenten unterordnen.“ | |
Der Biker hingegen sei „ein Individualist, der nicht unbedingt ein Colour | |
[Abzeichen eines Rockerclubs; Anm. des Autors] braucht, sondern sich selber | |
seinen Weg sucht, wie die Tramps und Trapper des Wilden Westens vor 100 | |
Jahren.“ Streng genommen ist Peter Struck also Biker und kein Rocker, da | |
nicht anzunehmen ist, dass der ehemalige Minister jemals Mitglied eines | |
organisierten Rockerclubs gewesen ist. | |
Es ist ohnehin so, dass die alltagssprachliche Definition sich arg von der | |
Selbstbestimmung organisierter Rocker unterscheidet. Rocker, das sind doch | |
die Typen mit den Jeanswesten und den ungewaschenen langen Haaren, die man | |
früher auch gerne mal Halbstarke nannte, so könnte man meinen. | |
## Hierarchisches System | |
Demnach wäre Lemmy von Motörhead waschechter Rocker. Oder Peter Maffay. In | |
der deutschen Komödie „Kleine Haie“ spielte Armin Rohde einen Rocker namens | |
„Bierchen“, einen Brocken, der zu viel Dosenbier trinkt und grausliche | |
Musik hört, im Grunde seines Herzens aber ein guter Kerl ist. | |
Bei der aktuellen Diskussion über die zweifelhaften Machenschaften von | |
Rockerbanden in Deutschland jedoch ist von Typen die Rede, die in ein für | |
Außenstehende undurchschaubares hierarchisches System eingebettet sind und | |
nicht von freiheitsliebenden Romantikern. Gesprochen wird von „Brothers“, | |
die sich in „MCs“ (Motorcycle Clubs), „Chapter“ und „Charter“ (Orts… | |
der Clubs) organisieren und „Kutten“ mit unterschiedlichen „Colours“ | |
(Clubfarben) tragen. Wie bei der Mafia gibt es Revierkämpfe, ja Kriege und | |
einen dubiosen Ehrenkodex, mit dem Ziel, die eigenen Machenschaften geheim | |
zu halten. | |
Subkulturen klar zu definieren ist nie ganz einfach. Skinheads | |
beispielsweise sind historisch gesehen links und dezidiert antirassistisch, | |
bevor sie Ende der Siebziger zur Personifikation einer genau | |
gegensätzlichen Ideologie wurden. Trotzdem gibt es auch heute noch Reste | |
einer linken Skinkultur, was dazu führt, dass es eben rechte und linke | |
Skins gibt, die nichts gemein haben außer den kahl rasierten Schädel. | |
Um zu klären, wie es zu den unterschiedlichen Definitionen des Rockers kam, | |
bleibt nur die Betrachtung der tiefen Verwurzelung des Rockers in der | |
Popkultur. Allein schon optisch ist es ein weiter Weg von Marlon Brando, | |
der 1953 im Film „The Wild One“ den Rockerbandenanführer Johnny Strabler | |
verkörperte und diese unverschämt coole Lederjacke und die lässige Kappe | |
trug, hin zum bierbäuchigen Kuttenträger von heute. | |
## Das Versprechen von Freiheit | |
Der Rocker wurde bei seinem Auftauchen in den späten Vierzigern | |
popkulturell romantisiert. Als Rebell und Outlaw. Archetypische | |
Rocker-Ikonen waren die Rock-’n’-Roll-Sänger. Elvis war ein Rocker. Jerry | |
Lee Lewis, Spitzname „The Killer“, war ein Rocker. Eltern und Lehrer | |
lehnten den Rocker ab, deswegen war er auch so interessant. Der Rocker | |
brachte den Mädchen das Versprechen von Freiheit. Dank seines Motorrads war | |
es möglich, morgen schon ganz woanders zu sein. Motorrad und Freiheit, das | |
war dasselbe. | |
In dem Elvis-Film „König der heißen Rhythmen“ gibt das Motorrad Elvis die | |
Gewissheit, auch sesshaft geworden, jederzeit tun zu können, was er will. | |
Und bei Bedarf weiterzuziehen. In den Sechzigern wird das Rebellen-Image | |
des Rockers von der Kulturindustrie ausgebeutet und vollends überhöht. | |
In dem Hit der Girlband Shangri Las, „The Leader Of The Pack“, verliebt | |
sich ein Mädchen in einen Rockerbandenanführer, der dann aber dramatisch | |
stirbt, auf Rocker reimt sich jetzt sogar Herz und Schmerz. Rund um den | |
Rocker entwickelt sich eine ganze Industrie aus Musik und Kinofilmen. | |
## Rebellen-Image | |
Der englische Kulturwissenschaftler Paul Willis beschreibt, wie die | |
„Motorbike Boys“ der Sechziger die späten Fünfziger zu ihrem „Golden Ag… | |
verklären, um in einer Zeit des gesellschaftlichen Umbruchs am | |
althergebrachten, eher unschuldig naiven Rebellen-Image des Rockers | |
festzuhalten. | |
Obwohl sich die Studentenproteste ankündigen, die Hippies eine neue Vision | |
von Freiheit entwerfen und sich die Beatles in Indien das Sitar-Spielen | |
beibringen lassen, soll Elvis der King bleiben. Gleichzeitig gründen Mitte | |
der Sechziger ehemalige Veteranen des Vietnamkriegs mit den Bandidos den | |
zweiten großen Rockerclub nach den Hells Angels. Der Film „The Wild Angels“ | |
von Roger Corman zeichnet ein neues popkulturelles Rockerbild. Mit Slogans | |
wie „Ihr Credo ist Gewalt“ und „Ihr God ist Hass“ wurde dieses | |
Spielfilmporträt einer Rockerbande beworben. | |
Die Outlaws auf ihren Motorrädern werden zwar auch romantisiert und Peter | |
Fonda hält als Bandenchef „Heavenly Blue“ eine Rede, die die vermeintliche | |
Rockerphilosophie zusammenfasst: „Wir wollen frei sein! Frei, um das zu | |
tun, was wir wollen! Wir wollen frei sein, um Motorrad zu fahren!“ Aber | |
einer der Rocker vergewaltigt eine Frau und es wird gezeigt, wie sich die | |
Rocker zehn Jahre vor Punk des Hakenkreuzes und anderer Naziinsignien | |
bedienen, um damit ihre gesellschaftliche Ächtung zu unterstreichen. Der | |
Film endet in einer Orgie aus Gewalt und Peter Fonda sagt: „Wir können | |
einfach nicht mehr weiter.“ | |
## Im Kampf gegen die Gesellschaft | |
Der Rocker ist Ende der Sechziger nicht mehr der liebenswerte Junge auf dem | |
Motorrad, der demnächst eine Lehre als Mechaniker beginnt, sondern der | |
dauerhaft Geächtete. Rocker wird zum Fulltime-Job. Der Rocker befindet sich | |
im Kampf gegen eine Gesellschaft, die für seine Vorstellung von Freiheit | |
keinen Platz bietet. „Klar, wir sind ausgestoßen, weil wir uns nicht | |
anpassen wollen an die herrschenden Systeme“, schreibt Günter Brecht in | |
seinem Rockerbuch. | |
Der Rocker richtet sich ein in seinem Dasein als Ausgestoßener. Der Weg in | |
die Kriminalität, bei dem man die bürgerlichen Regeln endgültig hinter sich | |
lässt, ist da nur konsequent. In Klaus Lemkes Film „Rocker“ aus dem Jahr | |
1971 wird der Rocker Gerd aus dem Gefängnis entlassen, vielleicht „von | |
einem Gefängnis nur in ein anderes“, wie der Filmkritiker Hans Schifferle | |
anmerkte. Jedenfalls braucht Gerd Geld, an das ein Rocker wie er im | |
Gefängnis der bürgerlichen Gesellschaft nur kommt, wenn er halt wieder ein | |
Ding dreht. | |
Nach dem Konzert der Rolling Stones im kalifornischen Altamont (1969), bei | |
dem ein Mitglied der Hells Angels einen Konzertbesucher ersticht, werden | |
die Rocker zu den Totengräbern der friedvollen Hippieära. 1976 kommt Punk | |
und aus dem Rocker, der auf Led Zeppelin steht, wird ein Altrocker, der | |
nicht mehr durchblickt. | |
Im Film „Quadrophenia“ von 1979 wird nochmals an die Kriege zwischen Mods | |
und Rockern im englischen Küstenort Brighton in den Sechzigern erinnert. | |
Die Mods sind die coolen Hipster auf Amphetaminen, die gut geschnittene | |
Anzüge tragen und schicke Lambretta-Motorroller fahren, während die Rocker | |
die Dumpfbacken sind, die dann ganz zu Recht eine gescheuert bekommen. | |
Auch wenn man sich die vielen Bilder in Günter Brechts Rockerbuch | |
betrachtet, will sich nicht mehr die Vorstellung vom glamourösen | |
Outlaw-Dasein des Rockers einstellen. Man sieht Rocker, die sich aus | |
unerfindlichen Gründen ständig untenrum nackig machen und Rocker, die sich | |
im Schlamm wälzen, was dann wohl eine gelungene Party sein soll. | |
Die Ausgestoßenen feiern ihr Ausgestoßensein. Wer sich freiwillig im Dreck | |
wälzt, dem ist eh schon alles egal. Der kann dann auch was mit | |
Zwangsprostitution machen, auch wenn das Peter Struck und Udo Lindenberg | |
ganz bestimmt total ablehnen. | |
16 Jul 2012 | |
## AUTOREN | |
Andreas Hartmann | |
## TAGS | |
Rocker | |
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