# taz.de -- Literaturproduktion im Netzzeitalter: Der Leser ist egal | |
> War Literaturkonsum vormals kaum analysierbar, soll er jetzt mit Ebooks | |
> transparent werden. Der Haken: Das Individuum ist dabei nur eine | |
> statistische Größe. | |
Bild: Geben so ihr Leseverhalten preis: Lesen auf elektronischen Endgerätenger… | |
Literatur, sagte Joan Didion einmal, sei ein feindlicher Akt, weil der | |
Autor versucht, dem Leser seine Sicht aufzuzwingen. Sie sagt das in einem | |
Paris Review-Interview, jener Gesprächsserie, die große Schriftsteller über | |
ihr Schaffen befragt und wie kein anderes Format Einblick gibt in die | |
unterschiedlichen Arbeitsweisen, das Literaturverständnis der Autoren, ihre | |
Selbsteinordnung. Es ist, man muss es so pathetisch sagen, die beste | |
Sammlung an Auslassungen über Literatur von Leuten, die davon Ahnung haben. | |
Jedoch: In den Archiven der Paris Review findet man kaum etwas über den | |
Leser. Der interessiert die meisten Autoren nicht. Nicht einmal mögliche | |
Auslegungen ihrer Werke interessiert; auf die Frage, was dieses oder jenes | |
Detail in ihrem Werk zu bedeuten habe antworten die meisten, dass darauf | |
eine Erwiderung zu finden nicht ihre Aufgabe sei. Sie schrieben, basta, die | |
Welt müsse selbst zusehen, was sie daraus mache. | |
Wer sich dafür interessiert hat, waren die Verlage. Wer kauft was und wie | |
hoch sind die Absatzzahlen, in welches Segment, in welche Reihe packen wir | |
dieses oder jenes Buch, damit jene, die es interessiert, es erreichen wird? | |
Marketingstrategen konnten sich einen groben Überblick verschaffen, was sie | |
aber nicht wussten war, wann ein Leser ein Buch zur Seite legt, welche | |
Passagen er überblättert, wie schnell er mit der Lektüre durch ist. Das | |
Buch blieb eine unzerteilbare Einheit. | |
Mit den Ebook-Readern ändert sich das: Amazon und Barnes&Noble | |
beispielsweise sammeln detaillierte Daten, von denen man noch nicht weiß, | |
wie sie die Literaturproduktion beeinflußen wird. Erste Ergebnisse | |
bestätigen schlicht, was man bisher nur zu wissen glaubte: Sachbücher | |
werden selten am Stück gelesen und, je länger sie sind, desto schneller zur | |
Seite gelegt. Genreleser, die Science Fiction, Liebes- und Kriminalromane | |
bevorzugen, lesen schneller und beenden meist die Bücher, die sie | |
angefangen haben. | |
## Bücher zu Ende lesen | |
Die Verlage ziehen daraus erste Konsequenzen: Barnes&Noble haben mit Nook | |
Snaps eine Reihe aus dem Boden gestampft, die große Sachthemen möglichst | |
kurz behandeln soll; der Washington Post sagte Jim Hilt, zweiter Mann der | |
Ebook-Sektion des Verlags, dass man sich Alternativen überlegen müsste, | |
wenn sich an bestimmten Stellen Leser langweilen: zum Beispiel ein Video | |
einfügen, oder einen Link, oder sonst irgendwas multimediales. „Wenn wir es | |
schaffen, dass Autoren noch bessere Bücher als jetzt schreiben, ist jedem | |
geholfen“, sagt er, und mit noch besseren Büchern meint er: Bücher, die | |
möglichst oft zu Ende gelesen werden. | |
Damit liefert das Ebook das ultimative Werkzeug für eine Branche, die sich | |
mehr und mehr dem Profitdenken angeschlossen hat. Der Kritiker Günther | |
Rühle beschrieb 1975 den Verleger als jemanden, der dem Publikum einen | |
Schritt voraus war, im Gegensatz zum (damals neu aufkommendem) Texthändler, | |
der die Bedürfnisse des Marktes bediente. | |
Die Logik des Händlers setzte sich in den 90ern durch: Galten zuvor | |
Renditen von ein bis fünf Prozent als absolut okay, mussten es bei S. | |
Fischer plötzlich 15 sein. [1][Das „Manifest“], das dieses Ziel ausgab, war | |
von McKinsey-Beratern verfasst worden. Random House beschloss im Geiste | |
dessen, gleich keine Übersetzungen mehr zu machen, weil sich das nicht | |
rechne. | |
## Markus Lanz der Literatur | |
Dieser Zugang hat sich in der Branche bis ins Kleinste durchgesetzt. Immer | |
wieder stößt man dieser Tage auf Interviews mit Autoren, die es geschafft | |
haben, wobei „es“ meint: Viel zu verkaufen. | |
Heute stellt sich Paulo Coelho, eine Art Markus Lanz der Literatur, im | |
[2][Zeit-Interview] selbst in eine Reihe mit Camus und Baudelaire, weil sie | |
ja schließlich alle Bestseller seien – und niemand widerspricht. | |
Der Science-Fiction-Autor und Netzaktivist Cory Doctorow spricht auf | |
Konferenzen nicht von seinem Schaffen oder seinem Blick auf die Welt, | |
sondern davon wie man es hinbekommt, sich erfolgreich zu vermarkten. Die | |
Karrierebloggerin [3][Penelope Trunk] bezeichnet selbstpublizierte | |
Sachbücher als „Visitenkarte“. | |
Es ist bezeichnend, dass Trunks neues Buch sich um das Glück dreht, während | |
die letzten beiden Bücher der Schriftstellerin Didion vom Leben nach dem | |
Tod ihres Mannes und dem ihrer Tochter handeln. Die eine verhandelt einen | |
kollektiven Traum (the american dream), die andere spricht über sehr | |
privates. | |
Didion antwortete in einem [4][Fernsehinterview] auf die Frage, ob man | |
daraus etwas lernen könne: „Ich denke nicht. Sie gehen davon aus, dass wir | |
in der Lage sind zu projezieren, nicht? Aber es stellt sich heraus, dass | |
wir da selbst durch müssen.“ Das glatte Gegenteil der „come on, share | |
it“-Ideologie der Gegenwart. | |
Literatur war über Jahrhunderte ein sehr privater Akt. Man ließ den Leser | |
allein mit seinem Buch, und es hat sich keiner für ihn interessiert. Jetzt | |
ist viel davon die Rede, dass Verleger und Autoren zum ersten Mal die | |
Gelegenheit haben, den Leser und seine Bedürfnisse kennenzulernen; das ist | |
aber nur eine nützliche Lüge. | |
Im Grunde ändert sich jetzt, da Lesen durch das Netz socialised wird: | |
nichts. Noch immer interssiert sich niemand für den Leser. Man interessiert | |
sich für den Konsumenten, der ein Querschnitt aus hunderten, tausenden, | |
hunderttausenden Lesern ist, ein Allerweltsgesicht, ein Allerweltsgeist. | |
Nicht Individualisierung, Normierung findet hier statt. Insofern war die | |
alte Masche, den Leser schlicht sich selbst zu überlassen, ehrlicher. | |
18 Jul 2012 | |
## LINKS | |
[1] http://www.buchmarkt.de/content/715-s-fischer-verlage-verabschieden-manifes… | |
[2] http://www.zeit.de/2012/27/Internet-Coelho/komplettansicht | |
[3] http://blog.penelopetrunk.com/2012/07/09/how-i-got-a-big-advance-from-a-big… | |
[4] http://www.youtube.com/watch?v=fYH9MLX7irI | |
## AUTOREN | |
Frédéric Valin | |
## TAGS | |
Akademie der Künste Berlin | |
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