| # taz.de -- Prozess gegen „Pussy Riot“: Unverschämt vor Gericht | |
| > Der Prozess gegen die russische Band Pussy Riot beginnt – wegen eines | |
| > Auftritts in einer Kathedrale. Staat und Kirche kämpfen vereint gegen die | |
| > Freiheit der Kunst. | |
| Bild: Zart besaitet: Punkrock in der Kathedrale hält der Kreml nicht aus. | |
| MOSKAU taz | „Heilige Mutter, verjage den Putin!“, kreischten die Frauen | |
| und wandten sich im selben Atemzug noch mit einer Bitte an die Jungfrau | |
| Maria: „Mutter Gottes, werde Feministin.“ Ganz Russland vernahm die | |
| spontane Punkandacht der feministischen Frauenpunkband Pussy Riot. Mit | |
| Hilfe von YouTube ist inzwischen auch die kritische Öffentlichkeit weltweit | |
| alarmiert. | |
| Schon seit fünf Monaten sitzen die drei Protagonistinnen der russischen | |
| Performance-Gruppe in Untersuchungshaft. Ein Gericht verlängerte die U-Haft | |
| im Juli noch einmal. Bis Januar dürften die Punkerinnen mindestens noch | |
| einsitzen. | |
| Am Montag beginnt der Prozess vor dem Moskauer Bezirksgericht. Das ist ein | |
| schlechtes Omen, denn dieses Gericht verurteilte schon den früheren | |
| Oligarchen und Eigentümer des Yukos-Konzerns Michail Chodorkowski zu | |
| mehreren Jahren Lagerhaft. Der Prozess sprach rechtsstaatlichen Verfahren | |
| Hohn. | |
| Die Aufmerksamkeit für die Causa Pussy Riot steht der Abrechnung Putins mit | |
| dem unbeugsamen Oligarchen schon jetzt in nichts nach. Nur die Zeiten haben | |
| sich geändert. Die „nationale Führungsfigur“ Wladimir Putin von einst ist | |
| durch Wahlmanipulationen und öffentliche Proteste angeschlagen. Das Volk | |
| folgt ihm nicht mehr blindlings. Die Aktion von Pussy Riot stieß in diese | |
| Schwachstelle, seither demontieren sich Staat und Kirche ohne Zutun | |
| „fremder Mächte“. Der Fall der Punkerinnen ist zum Politikum geworden. | |
| ## Vorwurf: „Rowdytum“ und „konfessioneller Hass“ | |
| Die Staatsanwaltschaft will die Gruppe wegen „Rowdytums“ zur Verantwortung | |
| ziehen. Sieben Jahre Haft sieht das Gesetz dafür maximal vor. Dass die | |
| Kirche im Schulterschluss mit dem Staat an den demutslosen Frauen ein | |
| Exempel statuieren möchte, verbergen die Verantwortlichen nicht. Das | |
| „Rowdytum“ wird noch durch den Vorwurf des Schürens „konfessionellen | |
| Hasses“ verschärft. | |
| Zur Erinnerung: Die Frauen waren im Februar – kurz vor den | |
| Präsidentschaftswahlen – in die Christi-Erlöser-Kathedrale, das | |
| wiedererrichtete Heiligtum der russisch-orthodoxen Kirche eingedrungen. | |
| Wenige Minuten dauerte der Auftritt. | |
| Die Musikerinnen trugen schrillfarbene Netzstrümpfe und gehäkelte | |
| Wollmasken, die die Engländer im Krimkrieg vor 150 Jahren erstmals gegen | |
| die Kälte übergezogen hatten. Jener Krieg hatte den europäischen Mächten | |
| die Rückständigkeit Russlands erstmals deutlich vor Augen geführt. | |
| Der Auftritt von Pussy Riot war – kaum hatte der Spuk begonnen – auch schon | |
| wieder vorbei. Wächter säuberten im Handumdrehen den Altarraum von den wild | |
| gestikulierenden Frontfrauen. „Schwarzer Priesterrock und goldene | |
| Schulterstücke, der Chef des KGB ist ihr wichtigster Heiliger“, konnten sie | |
| gerade noch ausrufen. | |
| ## Der Patriarch diente einst dem KGB | |
| Mit dem Chef des Geheimdienstes KGB war Wladimir Putin gemeint. Aber auch | |
| der Patriarch der Orthodoxen Kirche, Kyrill, hatte der Sowjetherrschaft als | |
| Agent gedient. Die geheimdienstlichen Codenamen der Kirchenväter sind im | |
| Internet einzusehen. „Wir wollten zeigen, dass das hier eine | |
| Heuchlerkathedrale ist. Unsere Aktion richtete sich gegen alle, die den | |
| wahren Glauben verzerren“, sagten die Frauen später. Mit religiösem Hass | |
| hätte die Performance nichts zu tun. | |
| Ob sie mit einer so scharfen Reaktion von Kreml und Kirche gerechnet haben? | |
| Oder damit, dass Putin die Angelegenheit zur Chefsache erklärt und eigens | |
| einen Stab einrichtet, der die flüchtigen Künstlerinnen aufspüren sollte? | |
| Zumindest sind sie jetzt populär und in aller Munde. | |
| Amnesty Internatonal erklärte Nadeschda Tolokonnikowa (22), Maria Aljochina | |
| (24) und Jekaterina Samuzewitsch (29) zu politischen Häftlingen. Politiker | |
| und Popgrößen setzen sich für sie ein, etwa die Red Hot Chili Peppers | |
| (siehe Kasten). Von Madonna wird erwartet, dass sie bei ihrem Konzert in | |
| Russland im August unmissverständliche Worte findet. | |
| Welche Chance hat die Orthodoxe Kirche gegen ein derartiges Aufgebot | |
| globaler säkularer Prominenz? In der Kritik an den Künstlerinnen führen | |
| sich beide selbst vor, gestehen Schwäche ein. Erfolgreicher hätte es für | |
| Pussy Riot nicht laufen können. | |
| ## Beziehungen zwischen sakralem und säkularem Raum | |
| Die Künstlerinnen wollten die Gesellschaft aufmerksam machen auf die | |
| „komplizierten Beziehungen zwischen sakralem und säkularem Raum, zwischen | |
| Kunst und Religion, Kunst und Recht“. Dieser Raum sei jetzt in Russland zum | |
| ersten Mal ausgeleuchtet worden, meint der bekannteste russische | |
| Kunstkritiker Boris Groys. Die Rage, mit der Staat und Kirche reagieren, | |
| scheint das zu bestätigen. | |
| Bei vorangegangen Aktionen wurden die Punkerinnen zwar festgenommen, aber | |
| bald wieder auf freien Fuß gesetzt, selbst bei einer Performance auf dem | |
| Roten Platz. „Aufstand in Russland – Putin hat sich in die Hose gepisst“, | |
| boten sie im Januar vor den Kremlmauern dar. Die Sicherheitskräfte ließen | |
| sie gewähren. Putin schaute weg. | |
| Auch dem Auftritt in der Moskauer Metro vor den Dumawahlen folgten keine | |
| Konsequenzen. Die Musikerinnen dichteten: „Ägyptische Luft ist gut für die | |
| Lungen/ Mach den Tahrir auf dem Roten Platz/ Verbring einen wilden Tag mit | |
| starken Frauen/ Such auf dem Balkon nach einer Brechstange, befreie den | |
| Pflasterstein.“ Es gebe keine Kunst, alles sei politisch, so die | |
| Aktivistinnen. | |
| Nadeschda Tolokonnikowa ist der intellektuelle Kopf von Pussy Riot, sie | |
| stammt aus dem Umfeld der Art-Performance-Gruppe Woina (Krieg), die schon | |
| oft mit spektakulären Aktionen auffiel. 2011 malten sie vor dem | |
| Petersburger Geheimdienstgebäude einen Penis auf die Hubbrücke. Öffnete sie | |
| sich, schauten die Geheimdienstler auf ein Riesengemächt. Das | |
| Kulturministerium zeichnete das Projekt „Dick captured by KGB“ sogar mit | |
| dem Innovationspreis aus. | |
| ## Aufregende Lektüre nicht gleich verstanden | |
| Die Rigorosität ohne Zwischentöne erinnert an die 70er Jahre. Russlands | |
| Avantgarde holt Diskurs und Lesekanon des revoltierenden Westens gerade | |
| nach – von Althussers repressiven Staatsapparaten über Foucault bis zu den | |
| Schriften amerikanischer Feministinnen. Aufregende Lektüre, die | |
| verschlungen, aber nicht immer gleich verstanden wird. Vieles, was die | |
| Gruppe von sich gibt, erinnert an die eigene Jugend. An jenes Gemisch aus | |
| Erlesenem, intellektueller Überheblichkeit und unreflektiertem | |
| Selbstbewusstsein. | |
| Der Auftritt in der Kathedrale hätte ein Akt bleiben können, an dem nur die | |
| Szene Geschmack findet. Die Verknüpfung von Putin und Orthodoxer Kirche | |
| stellte jedoch eine Grenzüberschreitung dar. Staat und Kirche sind unter | |
| Putin zu einem korporatistischen Unternehmen verwachsen. | |
| Der Klerus versorgt den Kremlchef mit Legitimität, Putin wiederum erhebt | |
| die Kirchenoberen zu Repräsentanten einer Quasi-Staatskirche. In einem | |
| Rechtsstaat wäre der Auftritt schlimmstenfalls als Ordnungswidrigkeit | |
| geahndet worden. Moskau macht ihn zu einer Frage von Loyalität, Verrat und | |
| Unterwerfung. | |
| Statt Gnade und Nachsicht zu üben, verlangte der offizielle | |
| Kirchensprecher, Wsewolod Tschaplin, strafrechtliche Konsequenzen: „Wir | |
| können und werden nicht in einem Staat leben, der solche Unverschämtheiten | |
| zulässt.“ Gotteslästerung wirft die Kirche den Inhaftierten vor, obwohl die | |
| seit der antiklerikalen Revolution 1917 keinen Straftatbestand mehr | |
| darstellt. | |
| ## Die Wucht des Hasses | |
| Die liberale Öffentlichkeit war entsetzt über die Wucht des Hasses und die | |
| Unversöhnlichkeit, mit der die Kirche nach Strafe verlangte. Auch | |
| moderatere Stimmen im Umkreis der Kirche kritisierten die | |
| Unverhältnismäßigkeit der langen U-Haft. Appelle an den Patriarchen, Milde | |
| zu zeigen, bewirkten das Gegenteil. | |
| Als die Presse daraufhin das luxuriöse Leben des Patriarchen unter die Lupe | |
| nahm und nach seinem Askesegelübde als Mönch fragte, schlugen die Synodalen | |
| um sich. | |
| Braucht ein ergebener Diener Gottes so viele kostbare Uhren, Immobilien und | |
| Luxuskarossen? Zuletzt ließ der Patriarch Gläubige aus der Provinz nach | |
| Moskau karren. 60.000 Statisten wohnten dem Schauspiel bei, als Kyrill die | |
| angeblich „geschändete“ Kathedrale von Neuem weihte. Schon einmal hatte die | |
| Orthodoxe Kirche bestellte Demonstranten in die Schlacht gegen moderne | |
| Kunst geschickt – gegen die Ausstellung „Achtung! Religion“, die in 2003 | |
| zerstört wurde. | |
| Der Fall Pussy Riot unterhöhlt die Autorität der Kirche, fast ohne Zutun | |
| der Frauen. Immer mehr Menschen lehnen eine harte Bestrafung der | |
| Delinquentinnen ab. Ein Prozess ist in Gang geraten, der das Verhältnis der | |
| Gesellschaft zur Kirche als höchste moralische Instanz infrage stellt. Mit | |
| aufgeklärten Bürgern kann die Orthodoxie auch nicht mehr anfangen als der | |
| Kreml. Schon ist abzusehen: Am Ende steht der Inquisitor selbst am Pranger. | |
| 30 Jul 2012 | |
| ## AUTOREN | |
| Klaus-Helge Donath | |
| ## TAGS | |
| Russland | |
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