# taz.de -- Repression in Russland: Bürger, seid nicht spontan! | |
> Die Mächtigen Russlands reagieren gereizt auf Proteste. Regierungstreue | |
> Parlamentarier wollen ein Gesetz durchdrücken, das selbst organisierte | |
> Aktionen erschwert. | |
Bild: Lupenreine Demokratie: Präsident Putin unter seinen treuesten Anhängern. | |
MOSKAU taz | Bereits einen Tag, nachdem eine riesige Flutwelle über die | |
Stadt Krymsk im Nordkaukasus hinwegfegt war, trafen Hunderte von | |
freiwilligen Helfern ein. Sie kamen aus allen Himmelsrichtungen und | |
Altersgruppen, und sie waren voller Enthusiasmus. | |
Mehr als 170 Opfer hatte die Katastrophe Anfang Juli zwischen Schwarzem | |
Meer und dem kaukasischen Gebirgskamm nach offiziellen Angaben gefordert. | |
In den größeren russischen Städten sammelten die Bürger Spenden und | |
schickten sie auf eigene Kosten ins Krisengebiet. | |
Nicht zum ersten Mal bewiesen die Menschen Solidarität miteinander. Auch | |
als im Sommer 2010 Russlands Wälder wochenlang in Flammen standen, waren es | |
die Bürger, die sich spontan organisierten. „Wenn die Gesellschaft | |
begreift, dass der Staat nicht in der Lage ist zu helfen, hilft die | |
Gesellschaft sich selbst“, meinten die Aktivisten der freiwilligen | |
Feuerwehr damals. | |
In Krymsk versagte der Staat ebenfalls erst einmal wieder: Statt über das | |
schnelle und kostenlose Engagement der Bürger dankbar zu sein, reagierten | |
die Bürokraten in Krymsk ablehnend. Je mehr Freiwillige eintrafen, desto | |
misstrauischer wurde die Verwaltung. Sie wollte die Fremden so schnell wie | |
möglich wieder loswerden. | |
## Tief verwurzelte Furcht vor dem Volk | |
Dahinter steckt eine tief verwurzelte Furcht der Beamten vor dem Volk: | |
„Niemand glaubte, dass die Helfer ohne politischen Auftrag vor Ort seien | |
und auf eigene Kosten arbeiteten“, meinte ein Freiwilliger. Die Bürokratie | |
sieht in den freiwilligen Einsätzen eine Kampfansage unzufriedener Bürger. | |
Denn wo sich die Menschen einbringen, hat der Staat nicht nur versagt, | |
sondern die offiziöse Propagandamaschine wird durch die Erzählungen der | |
Aktivisten vor Ort auch widerlegt. Die Freiwilligen sind aus der Sicht der | |
herrschenden Schicht potenzielle Demonstranten von morgen. | |
Regierungstreue Abgeordnete im Parlament reagierten sofort. Sie initiierten | |
ein Gesetzesprojekt, das die freiwillige Arbeit demnächst gesetzlich | |
reglementiert. Im Herbst soll die Duma die Paragrafen verabschieden. „Wenn | |
sich bisher ein Freiwilliger ins Auto setzte und nach einem vermissten Kind | |
im Wald suchte, muss er nun erst mit Bürokraten verhandeln und Papiere | |
ausfüllen“, meint Maria Baronowa, die die Hilfe in Krymsk mitorganisierte. | |
Ihre Sorge: Die Leute würden sich einfach nicht mehr engagieren, wenn der | |
Kontakt mit Regierungsvertretern und Bürokraten vorgeschaltet würde. | |
Ursprünglich sollte das Gesetz, an dem seit Jahren gearbeitet wird, die | |
rechtliche Stellung und Absicherung eines Freiwilligen stärken. Die | |
autoritäre Zuspitzung in der dritten Amtsperiode Wladimir Putins verkehrt | |
das Projekt ins genaue Gegenteil: Seit der Präsident im Mai in den Kreml | |
zurückkehrte, ist die Atmosphäre in Russland noch ungemütlicher geworden. | |
## Zivilgesellschaft soll im Keim erstickt werden | |
Putins Entourage erlässt ein Gesetz nach dem andern gegen das eigene Volk. | |
Die erwachende Zivilgesellschaft soll im Keim erstickt werden. Die | |
politische Elite war nach der Wiederwahl des Chefs im März davon | |
ausgegangen, dass die Proteste verebben würden. | |
Stattdessen nahm der Unmut noch zu. Hunderttausend gingen im Mai und im | |
Juni auf die Straße. Im Eilverfahren peitschte die Kremladministration ein | |
verschärftes Versammlungsrecht durch die Duma, das das Demonstrieren von | |
vornherein unterbinden möchte, wobei die Bußgelder erheblich angehoben | |
wurden. | |
Juristische Personen können mit bis zu 38.000 Euro belangt werden, Private | |
kommen mit einigen Monatsgehältern bis maximal 7.600 Euro davon. Alles wird | |
unter Strafe gestellt, auch wenn mehr Menschen teilnehmen als von den | |
Organisatoren vorher angegeben. | |
Beunruhigt sind Beobachter jedoch besonders wegen einer Neuerung: Kommt es | |
zu Verstößen gegen das Versammlungsrecht, sind nicht die Veranstalter | |
zunächst die Ansprechpartner. Ein Gericht entscheidet, wer schuldig ist. | |
Das öffnet der Willkür Tür und Tor: Die Behörden können gezielt bekannte | |
Oppositionelle herausgreifen und mundtot machen. Selbst die systemkonforme | |
Opposition in der Duma nannte das Gesetz „barbarisch“ und verweigerte die | |
Zustimmung. | |
## Bungeespringern droht Zwangsarbeit | |
Die überstürzte Initiative treibt inzwischen schon kuriose Blüten. In der | |
Provinz erhielten Bungeespringer, die von einem Hochhaus gesprungen waren, | |
eine Vorladung des Gerichts. Nicht jedoch, weil sie ihr Leben gefährdeten, | |
sondern weil das Training öffentlich stattfand und nicht genehmigt war. Der | |
Polizist sprach von der „Organisation einer Massenveranstaltung ohne | |
Anmeldung bei der Stadtverwaltung“. Den Bungeespringern droht Zwangsarbeit | |
oder eine Geldstrafe bis 500 Euro. | |
Auch in Sankt Petersburg gab es die ersten Opfer. Als sich auf dem Marsfeld | |
der Stadt 200 Menschen zur traditionellen jährlichen Kissenschlacht trafen, | |
nahmen die Ordnungshüter zehn Teilnehmer fest. Auch sie werden zu einer | |
Geldstrafe verurteilt. Denn das neue Gesetz macht die „gleichzeitige und | |
massenhafte Anwesenheit oder Bewegung von Bürgern“ in der Öffentlichkeit | |
meldepflichtig. | |
Den Bürgern soll die Lust an spontanen Aktionen genommen werden. Selbst | |
Besucher einer Moschee, die wegen Platzmangels vor dem Gotteshaus beteten, | |
wurden in Wladiwostok verwarnt. Demnächst dürften auch | |
Familienfeierlichkeiten, an denen mehr als drei Leute teilnehmen, | |
genehmigungspflichtig werden, ulkte ein Beobachter. | |
Der Spott verrät: Trotz der repressiven Schnellgesetze haben die Menschen | |
weniger Angst. Die herrschende Schicht besitzt kaum noch Autorität. Je mehr | |
sie versucht das durch autoritäre Verschärfungen wettzumachen, desto mehr | |
gibt sie sich der Lächerlichkeit preis. Lacht Russland erst einmal über den | |
Zaren, sind dessen Tage gezählt. | |
## Fundamente der russischen Staatlichkeit bedroht | |
Daran dürfte auch die jüngste Maßnahme nichts ändern, die nichtstaatlichen | |
Organisationen (NGO) vorschreibt, sich als „ausländische Agenten“ neu | |
registrieren zu lassen, wenn sie von ausländischen Geldgebern unterstützt | |
werden. | |
NGOs sind dem Kreml schon lange ein Dorn im Auge. Exgeheimdienstler | |
Wladimir Putin hält die Organisationen für eine Fünfte Kolonne, die im | |
Auftrag eines imaginären Westens an den Fundamenten der russischen | |
Staatlichkeit sägt. Schon 2006 veranlasste er daher eine Novellierung des | |
NGO-Gesetzes, das die Auflagen verschärfte. Justizministerium und Finanzamt | |
hatten vorher schon einen klaren Einblick in Arbeit und Finanzen der | |
Initiativen. | |
Auch dieses Gesetz wurde übereilig durchgedrückt. Eigentlich richtet es | |
sich gegen Organisationen wie die Wahlbeobachter von „Golos“, die die | |
Einhaltung de russischen Wahlgesetze überwachen. Die Initiative hatte | |
während der Dumawahlen im Dezember das Monitoring von Wahlmanipulationen | |
koordiniert und online publiziert. Der Betrug der Kremlpartei löste im | |
Dezember die Unruhen aus. | |
In diese „Giftkategorie“ gehört auch Transparency International (TI). Die | |
Antikorruptionsinstanz stört die Kremlkamarilla beim Ausplündern des | |
Landes. Die Kriegserklärung an diese Organisationen dient eigenen | |
Interessen: Erhalt der Macht und des Zugangs zu den Quellen der | |
Bereicherung. Betroffen sind aber auch Gruppen, die soziale Aufgaben | |
wahrnehmen, die der Staat nicht leisten will oder kann. | |
## Sowjetische Diffamierungsformel soll Bürger abschrecken | |
Wladimir Putin ist noch dem Denken des Homo sovieticus verhaftet, für den | |
ein „ausländischer Agent“ auch nur ein Synonym für „Spion“ ist. Mit d… | |
Rückgriff auf die sowjetische Diffamierungsformel setzt der Kreml darauf, | |
dass Bürger vor Kontakt mit unabhängigen Organisationen zurückschrecken. | |
Bislang haben sich die bekannteren NGOs und Menschenrechtsorganisationen | |
nicht aus der Ruhe bringen lassen. Noch hat sich keine NGO freiwillig die | |
Zuschreibung „Agent“ zugelegt, und auch staatlichen Kontrolleure sind noch | |
nicht unterwegs. | |
Ludmila Alexejewa, die Grande Dame der russischen Menschenrechtsszene und | |
Vorsitzende der Moskauer Helsinki-Gruppe, lässt schon jetzt keinen Zweifel | |
daran, dass sie sich verweigern wird: „Wir werden uns unter keinen | |
Umständen als ausländischer Agent registrieren lassen, weil wir keiner | |
sind.“ | |
Sie werde bis zum Ende kämpfen, sagte die 85-Jährige. Auch Jelena Panfilowa | |
von TI in Moskau will der Anordnung nicht folgen. Sie bedauert vor allem, | |
dass Russland durch diese Maßnahme wieder „dastehe wie ein | |
mittelalterlicher Idiot“. | |
## Wechselspiel aus Protest und Repression | |
In der politischen Klasse wächst die Furcht vor einem Umsturz. Davon zeugt | |
auch ein Gesetz, das die Behörden veranlasst, eine „schwarze Liste“ aller | |
Webseiten zu erstellen, die Drogenkonsum, Pornografie oder extremistische | |
Ideen verbreiten. Hinter der Absicht, Kinder vor schädlichen Inhalten zu | |
schützen, lauere die Gefahr politischer Zensur, glauben Oppositionelle. | |
Zumal das Gesetz bewusst offen lässt, was „schädlich“ heißt. Das | |
Wirtschaftsblatt Wedomosti analysierte diese Woche unterdessen, wohin | |
Wechselspiele aus Protest und Repression autoritäre Regime führen können. | |
Der historische Rundblick belegt zumindest eins: Unabhängig vom Protest | |
lässt sich eine einmal in Gang gesetzte Repressionsmaschine nicht mehr | |
aufhalten. Aus russischer Perspektive führten die Autoren noch eine | |
Gewissheit an: Opfer der Repression werden am Ende jene sein, die sie in | |
Gang setzten. | |
Vielen geht es so wie dem russischen Schriftsteller Wiktor Jerofejew: „Ich | |
träume von einer Revolution, aber ich wünsche sie mir nicht.“ | |
7 Aug 2012 | |
## AUTOREN | |
Klaus-Helge Donath | |
Klaus-Helge Donath | |
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Russland | |
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nicht. |