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# taz.de -- Inmitten der Critical Mass: "Es gibt nur die Crowd"
> Wenn nur genügend Fahrradfahrer zusammen fahren, gehört ihnen die Straße,
> und die Autofahrer haben das Nachsehen. In Hamburg ist das immer am
> letzten Freitag im Monat so. Ein Erfahrungsbericht aus der Mitte der
> Masse.
Bild: Die Masse, von innen betrachtet.
Wir fahren den Jahnring runter. Nicht auf dem Fahrradweg. Dafür sind wir zu
viele. So ungefähr 1.000. Wir fahren mitten auf der Straße, die abgesperrt
ist. Von der Polizei und von unseren Leuten, die an den Einmündungen mal
kurz ihre Fahrräder quer und sich den Diskussionen mit Autofahrern stellen.
Das Gefühl, von Rädern umgeben auf der Straße zu fahren, angstfrei, ist
großartig. Erinnert an die autofreien Sonntage 1973. Die meisten, die hier
mitfahren, waren da noch nicht geboren. Neben mir einer mit einer großen
Anlage auf seinem Lastenrad, aus der französische Rockmusik wummert.
Wir sind, wer wollte das leugnen, ein wenig sophisticated. Dass wir uns um
19 Uhr treffen, war klar, der Treffpunkt, diesmal die Wiese vor dem
Planetarium, wird erst ein paar Stunden vorher per Facebook bekannt
gegeben. Das hier ist nämlich eine total moderne Form von Politik. Das hier
ist: Critical Mass.
Es gibt keine Organisatoren, keine Anweisungen, keine Megaphone, keine
Handzettel, keine Plakate, keine festgelegte Strecke, keine festgelegte
Streckenlänge, keine festgelegte Dauer, keine Reden, so gut wie keine
Werbung. „Es gibt nur die Crowd“, sagt Jens, der eigentlich nicht mit mir
sprechen will, weil das so aussieht, als würde er für irgend wen sprechen,
und nicht die Sache für sich.
Immer an einem bestimmten Tag im Monat, in Hamburg ist es der letzte
Freitag, treffen sich weltweit Fahrradfahrer und fahren mal ein bisschen
durch ihre Stadt. Dabei legen sie dort, wo sie fahren, den Verkehr lahm.
Das finden nicht alle lustig, die Autofahrer, die meisten von ihnen per se
gestresst, bekommen noch dickere Hälse.
Entstanden ist „Critical Mass“ 1992 in San Francisco, in Berlin werden seit
1997 Ausflüge gemacht. In Hamburg lief das mal ganz gut, dann nicht mehr,
seit 2011 läuft es wieder. Am Freitag vor einem Monat waren es, im Regen,
500, einen Monat davor 1.000. „Die Polizei“, weiß Jens, „hat uns am Anfa…
ein bisschen Ärger gemacht, jetzt helfen sie prima mit, die Straßen
abzusperren. Aber es ist schwer für sie, weil sie ja nicht wissen, wo wir
hinfahren.“
Wir wissen es ja selbst nicht. Der, der zufällig vorne fährt, entscheidet,
ob es links ab geht oder rechts. Wir werden deshalb von „Lalülala“
begleitet, in den Nebenstraßen. Was hier passiert, ist ziemlich frei,
undogmatisch, ziemlich spontan, und lustig. „Es ist noch nie was passiert“,
sagt Jens.
Hier sind geile Räder dabei. Ist auch so was wie eine Radschau. Auch ganz
alte Hobel, und normale, und ein zusammengeschweißtes Teil, da sitzen die
beiden Radler links und rechts vom Rahmen und treten. Da drüben hat einer
eine Flasche weißen Burgunder in seinem Flaschenhalter stecken. Vom gut
gekühlten Weißen perlt das Wasser. Sonst steckt dort: Isodrink. Und ein
anderer hat eine Flasche Bier im Halter. Wir fahren so langsam, dass wir
uns Dosen hin und her reichen können.
Die Saarlandstraße vor. Der Himmel zieht sich ein wenig zusammen. Klingeln,
kühler Wind, langsam, das ist so geil. „Wir nehmen den Straßenraum für uns
in Anspruch“, sagt Jens. Als Verkehrsteilnehmer bildeten Radfahrer „eine
Gemeinschaft, die Kraft hat“. Konkret geht es darum, von den Radwegen, die
oft zu eng und meistens in einem erbärmlichen Zustand sind, wegzukommen,
auf die Straße. „Da fährt es sich“, sagt Jens „am sichersten.“
Beim Start vor dem Planetarium haben alle ihre Räder hochgehalten, das geht
ohne Weiteres, so leicht, wie die Dinger sind, dann wurden ein paar Fotos
gemacht, für die Internetseite, und dann haben wir mal ordentlich
geklingelt. Dann sind ein paar immer im Kreis gefahren, quasi eine
Rad-Polonaise, es wurden immer mehr, bis einer auf die Hindenburgstraße
raus gefahren ist und die anderen hinterher. Man muss ein wenig Vertrauen
haben, dass auch in großen Gruppen Rationalität steckt, dann geht das.
Nicht wie bei Gustave Le Bon, dem Begründer der Massenpsychologie. Sondern
eben „Kritische Masse“.
Wir sind von der Saarlandstraße Richtung Barmbeker Straße geradelt, und
bevor es der Polizei oder uns gelungen ist, ist dort ein Büchsenpilot aus
einer Seitenstraße auf die Kreuzung gefahren und will nun weiterfahren,
mitten rein in die „Crowd“. Er wird umringt, denn das ist gefährlich. Und
einer erklärt dem Fahrer ganz ruhig, dass er sich „nun auf etwas Wartezeit
einrichten muss“. Und dass da auch Hupen nichts nützt. Und Schimpfen.
Weiterfahren muss er sich für ein paar Minuten abschminken.
Die Barmbeker, die Herder Straße runter, diese innerstädtischen Autobahnen,
und tatsächlich kommt ein Wagen an gebraust, dafür gebaut, laut und schnell
zu überholen, und andere Verkehrsteilnehmer zu beeindrucken. Der Fahrer
weicht auf die Gegenfahrbahn aus, um an uns vorbeizukommen, und als der
Gegenverkehr kommt, drängt er in die Gruppe der Radler. Gut, dass wird
nicht so eng fahren, und ausweichen können. Der hat sie nicht alle.
Nun kommt das Gewitter und weil wir gerade bei mir zu Hause vorbei fahren,
steige ich aus. „Kann auch mal drei Stunden dauern“, sagt Jens, „unsere
Radtour, bis keiner mehr Lust hat.“ Das Logo ist ein Rad, aus dessen Rahmen
eine Faust wächst.
## Hamburg: jeder letzte Freitag im Monat, 19 Uhr, Ort wird über Facebook
bekannt gegeben Bremen: jeder letzte Freitag im Monat, 19 Uhr,
Bahnhofsvorplatz Braunschweig: jeder erste Samstag im Monat, 15 Uhr,
Hauptbahnhof
9 Aug 2012
## AUTOREN
Roger Repplinger
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