# taz.de -- Alkohol im Altersheim: Betreutes Trinken | |
> Sucht im Alter ist ein wachsendes und oft tabuisiertes Problem. In einem | |
> Schweriner Seniorenheim sind 30 von 149 BewohnerInnen auf einer | |
> speziellen Sucht-Station. | |
Bild: Leben im Altersheim: Wenn Alkohol lange Bestandteil des Lebens war, muss … | |
SCHWERIN taz | Petra Tillmann und Thomas Grosch sitzen im Pflegerzimmer und | |
besprechen anstehende Aufgaben. Alle zehn bis 15 Minuten klopft es und ein | |
anderer grauhaariger Mann steckt seinen Kopf durch die Tür. Die Frage, die | |
die Männer bewegt, ist immer die gleiche: „Kann ich wieder was bekommen?“ | |
Es klingt wie die Bitte an einen Dealer – und tatsächlich, es geht ihnen um | |
Suchtmittel, um Alkohol und Zigaretten. | |
Tillmann, 45, ist leitende Pflegefachkraft im Haus „Am Fernsehturm“ der | |
Sozius Pflege- und Betreuungsdienste Schwerin. Das Heim liegt in einer | |
Plattenbausiedlung im Stadtteil Großer Dreesch, der 29-jährige Grosch ist | |
hier Altenpfleger. Die Station, auf der er arbeitet, ist anders als die | |
meisten: Er betreut Senioren mit einer Sucht und suchtbedingt | |
pflegebedürftige alte Menschen. Letztere haben durch die Abhängigkeit – | |
meist von Alkohol – einen körperlichen Zustand erreicht, in dem sie sich | |
nicht mehr selbst versorgen konnten und eine Pflegestufe für sie beantragt | |
wurde. | |
Viele leiden unter dem Korsakow-Syndrom, einem durch ihren | |
Alkoholmissbrauch hervorgerufenen Hirnschaden. Durch die Sucht ergeben sich | |
Bedürfnisse, die in einem normalen Pflegebetrieb nicht berücksichtigt | |
werden könnten. | |
„Viele der Bewohner haben vorher nur noch getrunken, kaum gegessen und sind | |
nicht mehr zum Arzt gegangen“, sagt Grosch. „Wir geben ihrem Leben wieder | |
eine Struktur. Sie stehen zu festen Zeiten auf, bekommen regelmäßige | |
Mahlzeiten und nehmen wieder ihre Medikamente ein.“ Doch der Alkohol, der | |
ihnen lange Medizin genug war, ist bei vielen fester Bestandteil des | |
Lebens. Ziel der Pfleger ist zwar, die Menschen davon abzubringen, aber die | |
Sucht ist oft weit fortgeschritten – viele können nicht mehr auf Bier oder | |
Schnaps verzichten. Darum werden hier, nach Absprache mit einem Arzt, | |
kontrolliert alkoholische Getränke ausgeschenkt, in Mengen, die ebenfalls | |
der Mediziner festlegt. | |
## Zigaretten nur zur vollen Stunde | |
Es gelten klare Regeln: Hätten die Bewohner Bargeld, würden viele es für | |
Alkohol ausgeben, darum verwaltet das Pflegepersonal die Barschaften. Bei | |
wem der Arzt seine Zustimmung gegeben hat und wer es sich leisten kann, | |
darf maximal drei Bier am Tag trinken. „Oft muss man diskutieren“, sagt | |
Tillmann. „Einige verstehen nicht, warum sie selbst nur ein kleines | |
Schnapsglas bekommen und jemand anders ein ganzes Bier. Da wird es auch | |
schon mal laut.“ | |
Der Alkohol ist im Zimmer der Pfleger eingeschlossen, nur hier wird er | |
ausgeschenkt und jedes verabreichte Getränk in eine Liste eingetragen. | |
Genau so ist es mit den Zigaretten, für fast alle Stations-Bewohner sind | |
sie eine Art Ersatzdroge, ein Zettel an der Tür verrät: Zigarettenausgabe | |
zu jeder vollen Stunde. | |
Die Abteilung für Suchtpatienten besteht seit 2006, Peter Grosch, der Vater | |
von Thomas Grosch und Geschäftsführer der Evangelischen Suchtkrankenhilfe | |
Mecklenburg, hat das Konzept gemeinsam mit Sozius entwickelt. Immer öfter | |
traf er damals auf Menschen, die durch ihre Abhängigkeit zu Pflegefällen | |
geworden waren und spezielle Hilfe benötigten. Heute gibt es 30 Plätze in | |
der Abteilung, mehr sind laut Personalschlüssel bei der Anzahl der | |
Pflegekräfte nicht möglich – füllen könnte Tillmann allerdings mehr Zimme… | |
immer wieder erreichen sie Anfragen nach freien Betten. | |
Das entspricht einem allgemeinen Trend: Die Deutsche Hauptstelle für | |
Suchtfragen geht aufgrund verschiedener Studien davon aus, dass fast 27 | |
Prozent der Männer und knapp acht Prozent der Frauen über 60 Jahren so viel | |
Alkohol konsumieren, dass ihr Krankheitsrisiko stark steigt. Etwa drei | |
Prozent der Männer und ein Prozent der Frauen leiden an einer | |
Alkoholabhängigkeit, wobei die Dunkelziffer vermutlich höher liegt, da | |
Senioren im Alltag wenig auffällig sind. | |
## Sucht im Alter nimmt zu | |
Überhaupt spielen Suchtmittel im Alter eine wachsende Rolle: Mehr als zwei | |
Millionen ältere Männer und Frauen rauchen, bei ein bis zwei Millionen | |
Menschen weist der Gebrauch psychoaktiver Medikamente zumindest | |
Gewohnheitscharakter auf. Viele Ärzte und Suchtexperten vermuten, dass das | |
Thema Sucht im Alter durch die demografische Entwicklung künftig weiter an | |
Bedeutung gewinnen wird. | |
„Am Fernsehturm“ konnten die Pfleger in den letzten Jahren aber auch | |
Erfolge verzeichnen. Zwei ehemalige Bewohner, die wegen alkoholbedingter | |
Pflegebedürftigkeit hier lebten, konnten in die Häuslichkeit zurückkehren. | |
Sie wohnen in der Nähe des Heimes und kommen regelmäßig zu Aktivitäten her. | |
Das Heim stellt weiterhin eine feste Bezugsgröße für sie da, aber sie | |
können wieder auf eigenen Füßen stehen. | |
Und auch von denen, die noch im Heim leben – unter ihnen nur fünf Frauen – | |
sind einige inzwischen „trocken“, wie der 68-jährige Hans G. Der Alkohol | |
trat kurz nach der Arbeitslosigkeit in sein Leben, der Rollstuhlfahrer | |
trank irgendwann so viel, dass er sich nicht mehr versorgen konnte. Jetzt, | |
so sagt er, will er ein besserer Mensch werden – und sein Geld lieber für | |
andere Dinge ausgeben. | |
Die Finanzen sind nicht selten der Grund dafür, warum der Alkohol | |
unwichtiger wird, sagt Grosch: „Manche Bewohner sparen zum Beispiel auf | |
einen Restaurantbesuch, den eine Kollegin einmal im Monat mit ihnen | |
unternimmt oder sie wollen sich etwas kaufen. Dann kommt es vor, dass | |
jemand lieber mal ein Bier weniger trinkt.“ Geredet wird im Heim viel, etwa | |
in einer Morgenrunde, Alkohol ist aber so gut wie nie das Thema. Vielmehr | |
wird über Tagesgeschehen oder Unternehmungen gesprochen. Die Sucht gerät in | |
den Hintergrund. „Wir hatten auch schon das Glück, dass jemand einfach | |
vergessen hat zu trinken“, erinnert sich Tillmann. „Und wir erinnern | |
niemanden ans Trinken.“ | |
Doch natürlich gibt es genügend Bewohner auf der Station, die sich sehr | |
wohl an den Grund ihres Aufenthaltes erinnern. Wieder klopft es, ein Mann | |
mit zerzaustem, grauem Haar steht vor der Tür zum Pflegerzimmer. Eine | |
Zigarette und ein Bier hätte er gerne. Die Zigarette bekommt er, den | |
Alkohol muss Grosch ihm mit bestimmter Stimme verwehren – der steht erst | |
für den Abend wieder auf der Liste. | |
10 Aug 2012 | |
## AUTOREN | |
Kathrin Otto | |
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