# taz.de -- Altersarmut: "Das Schlimmste ist die Einsamkeit" | |
> Hilde Tethmann ist 75 und lebt auf St. Pauli – dem altersärmsten | |
> Stadtteil Hamburgs. Wenn sie zu Hause ist, isst sie aus Dosen. Ihre | |
> größte Angst: das Alleinsein. | |
Bild: Nach dem Mittagstisch bei der Heilsarmee: Hilde Tethmann spielt Mensch-ä… | |
HAMBURG taz | Es ist ein verschneiter Morgen im Januar, in einer Straße, in | |
der Mittzwanziger vor Stunden noch von Kneipe zu Kneipe fielen, als Hilde | |
ihre türkisblaue Wohnungstür öffnet. Und man sieht: nichts. In Hildes Flur | |
ist es so dunkel wie im Tunnel. Dann doch, Teppich unter den Füßen, eine | |
alte Kommode, ein zerschlissener St.-Pauli-Wimpel an der Wand, rechts | |
runter die Küche. Auf dem Tisch brennt eine Kerze. | |
"Was ist schon arm?", sagt Hilde Tethmann. "Ich sach ma, es gibt Leute, die | |
haben weniger als ich." | |
Sie ist 75 Jahre alt, für diese letzte Phase ihres Lebens, wie sie sagt, | |
hat sie jeden Monat 850 Euro Witwenrente. Wer weniger als 856 Euro im Monat | |
zur Verfügung hat, gilt in Deutschland als arm. | |
Es gibt noch andere wie Hilde, sie heißen Heike, Erika, Irmchen. Sie sind | |
alt, arm, meist allein, und sie wohnen im Hamburger Stadtteil St. Pauli. | |
Wo, wie es heißt, die ärmsten Rentner Deutschlands wohnen. Aber Heike, | |
Erika und Irmchen wollten partout nicht reden. Es ist, als hätten sie einen | |
Schutzwall aufgebaut. "Es reicht doch, wenn ich weiß, wie ich lebe", sagt | |
eine. "Und jetzt soll ich Ihnen zeigen, in welcher Kommode ich mein | |
Kleingeld hab, oder was? Nein danke", sagt die andere. | |
## Besser fürs Herz | |
Hilde Tethmann wollte reden, oder besser: Ihr war es egal. "Na und?", sagt | |
sie. "Ich schäme mich nicht! Und sach Hilde zu mir." | |
Sie hat Kaffee gekocht, koffeinfreien, der sei besser fürs Herz. Die Uhr an | |
der Wand geht eine Stunde vor, sie wurde wohl seit Oktober nicht | |
umgestellt. Hilde setzt sich. Sie hat eisblaue Augen, am linken Auge eine | |
Warze, ihre Brauen hat sie sich nachgeschminkt. Überm rechten Auge ist die | |
braune Linie doppelt gezeichnet, Hilde hat Grauen Star. | |
Es war schwierig, überhaupt einen Termin zu vereinbaren. Ihre Wochen sind | |
verplant mit Chorsingen, Werken beim Heimbund, Mittagessen in der | |
Heilsarmee, Kaffee und Kuchen beim Seniorentreff St. Pauli, Gottesdienst | |
und Andachten, mehrmals die Woche zur Hamburger Tafel. Da holt sie sich | |
alle Lebensmittel, die sie braucht. Nur Brot und Joghurt, die kauft sie im | |
Penny an der Reeperbahn. | |
17.000 Rentner in Hamburg bekommen die sogenannte Grundsicherung, das Hartz | |
IV für Alte, also jeder zehnte. Auf St. Pauli ist es sogar jeder vierte | |
Rentner, sagt der Deutsche Gewerkschaftsbund - und warnt vor einer | |
"Armutswelle" bei alten Menschen. Auch Hilde würde ein staatlicher Zuschuss | |
zu ihrer Witwenrente zustehen. Aber sie geht nicht zum Amt. "Keine Lust." | |
Wenn sie auf die Straße geht, zieht sie ihre beste Kleidung an. Den guten | |
braunen Rock, den schwarzen Rolli, ein Seidentuch, eine Perlenkette. Wenn | |
sie nach Hause kommt, zieht sie ihre beste Kleidung aus, sie hängt sie auf | |
einen Bügel, streicht sie glatt, packt sie in den Kleiderschrank. "Zum | |
Schonen", sagt sie. Dann zieht Hilde eine Jogginghose über und den alten | |
Wollpulli. "Versteckte Armut", sagen Soziologen dazu. | |
Besonders Frauen seien betroffen: Die Scham und der Stolz seien zu groß, | |
als dass sie ihre Mittellosigkeit öffentlich zeigen würden. Doch gerade | |
Frauen sind im Alter besonders arm. Oft waren sie diejenigen, die die | |
Kinder betreuten, die Wäsche wuschen, das Abendessen zubereiteten, während | |
der Mann sozialversicherungspflichtig arbeiten ging. | |
## Die "Weiße Maus" | |
Hilde heiratete, da war sie 20 - und hat dennoch ihr Leben lang gearbeitet. | |
Anfangs hat sie bei Bauern im Haushalt geholfen, während ihr Mann auf dem | |
Feld war, 25 Mark im Monat hat sie verdient, sagt sie. In der Nähe von | |
Quickborn war das. Arbeitszeit: fünf Uhr früh bis 20 Uhr abends. Später | |
zogen sie nach Hamburg, ihr Mann war Staplerfahrer in der Astra-Brauerei, | |
als sie sich 1989 einen Traum erfüllten: eine gemeinsame Gaststätte. Die | |
"Weiße Maus". Ein bisschen Pferdewurst, Frikadellen, Suppe, "die kamen ja | |
alle abends direkt von der Arbeit", sagt Hilde. "Die hatten Hunger." | |
Ihr Mann half jedoch selten aus, Hilde war überfordert. Im siebten Jahr | |
gaben sie die "Weiße Maus" auf. Hilde putzte im Restaurant der | |
Handelskammer. "Das ist so eine Haltung, die man haben muss", sagt sie. | |
"Immer schön den Kopf oben halten." | |
Sie wohnt allein in dieser Dreizimmerwohnung, für die sie 380 Euro Miete | |
zahlt. Warm. Nach allen Abzügen bleiben ihr 250 Euro zum Leben. Es ist, als | |
hätte sich ihr komplettes Leben hier auf diesen 70 Quadratmetern angestaut. | |
Auf den Fensterbrettern verstaubt Nippes, auf den Kommoden Engel und | |
Nikoläuse, ein kleiner Plastikweihnachtsbaum, übersät mit Lametta, wirkt | |
vergessen in der Ecke, von der Decke hängen Papierschlangen von Silvester. | |
Vor ein paar Monaten überlegte sie, sich eine Wohnung im Altenheim zu | |
nehmen, aber 40 Quadratmeter für 490 Euro, das war zu viel. Noch kann sie | |
die Treppen nehmen in den zweiten Stock. | |
Nur wenn Extrazahlungen auf sie zukommen, die nicht vorhersehbar waren, | |
bekommt Hilde Probleme. Vor zwei Jahren hat sie aus Versehen den Wasserhahn | |
in der Küche laufen lassen und die Wohnung des Nachbarn geflutet. Auch eine | |
Stromnachzahlung von 100 Euro kann sie schon in die Knie zwingen. Dann | |
zahlt sie in Raten. | |
Hilde öffnet die Tür zum Kühlschrank, der Kaffee ist mittlerweile kalt | |
geworden, aber sie hat die Milch vergessen. Jedes Regal ist voll. | |
Sprühsahne, Dosenorangen, Hering in der Dose, Würstchen in der Dose, | |
Brötchen in der Dose. Hilde kocht selten. | |
"Ich habe wenig Geld, aber mein Kühlschrank ist nie leer", sagt sie. "Und | |
ich habe Glück, dass mein Männe früher mehr verdient hat als ich." | |
## Fünf Kinder. Ein Pudel | |
Der Männe starb 1999. Kehlkopfkrebs. Nach 43 Jahren Ehe. Ein Jahr lang | |
hatte er nicht mehr reden können, so groß war der Tumor. Fünf Kinder, der | |
Bernd, die Jutta, der Frank, der Michael, die Silke. Ein Pudel. Zwei von | |
den Kindern wohnen in Hamburg, der Rest auf dem Land in Schleswig-Holstein. | |
Zuletzt hat sie ihre Kinder an Weihnachten gesehen, es ist selten, dass die | |
Familie noch zusammenkommt. | |
Nach vier Jahren als Witwe lernt Hilde einen neuen Mann kennen, es ist | |
2003. Unten im Nebenhaus, in der Marietta-Gaststätte. "Wie haben gedartet, | |
irgendwann jeden Abend, dann habe ich ihm manchmal Essen runtergebracht." | |
Dann kommt er eines Abends mit hoch. Und bleibt. Er arbeitet auf einer | |
Bohrinsel in der Nordsee, kurz vor Helgoland. Für ein paar Wochen, dann | |
fährt er wieder nach Hamburg, zu Hilde. | |
"Das war so schön", sagt sie. "Er hat mich verwöhnt ohne Ende, jeden Morgen | |
gab es Kaffee und Brötchen auf dem Frühstückstisch." | |
Der Freund stirbt 2008. Kehlkopfkrebs. "Ich fand ihn weinend in der Stube, | |
als er es rausfand." Der Freund war starker Raucher, seine Lunge war | |
schwarz, als er ins Krankenhaus kam. Von Mai bis August lag er im Koma. Er | |
ist nicht mehr aufgewacht. Sie haben sie nicht angerufen, als er starb. | |
"Nur, weil wir nicht verheiratet waren. Das hat mich sehr verletzt", sagt | |
Hilde. | |
Der Pudel stirbt 2009. Einfach so, er hört auf zu leben. "Das Schlimmste", | |
sagt Hilde, "das Schlimmste ist die Einsamkeit." | |
Um ihr zu entkommen, ist Hilde oft unterwegs. Doch sie geht nie weit, ihr | |
Leben spielt auf St. Pauli. Es ist Freitagmittag, als sie mit zwei Männern | |
an einem Tisch sitzt, bei einem Becher Früchtetee. Eigentlich isst sie hier | |
in der Heilsarmee immer zu Mittag, aber die braune Suppe heute, die in der | |
Küche im großen Kochtopf schwimmt, gefällt ihr nicht. Die ist von gestern. | |
"So, der muss weg!", ruft sie, dann schubst sie mit ihrem blauen | |
Spielmännchen das rote vom Spielbrett. Mensch ärgere dich nicht, Hilde | |
ärgert sich immer, aber heute gewinnt sie. | |
"Viele trauen sich im Alter nicht mehr unter Leute", sagt sie. "Die denken | |
dann, och nö, da bleibe ich lieber zu Hause." Sie selbst habe nur vor einer | |
Todesursache Angst: Langeweile. | |
Einen Mann sucht sie nicht, sagt sie. "Jetzt bleib ich alleine. So einen | |
Lieben wie den letzten find ich sowieso nich mehr." | |
24 Feb 2012 | |
## AUTOREN | |
Emilia Smechowski | |
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