| # taz.de -- Sikhs in Deutschland: Toleranz unterm Turban | |
| > Nach dem tödlichen Angriff auf einen Sikh-Tempel in den USA wächst auch | |
| > unter deutschen Sikhs ein ungutes Gefühl. Nun setzen sie auf Aufklärung | |
| > über ihre Religion. | |
| Bild: Wie viele Sikhs genau in Deutschland leben, ist schwer zu sagen. Eine Dac… | |
| Kunterbunt sind die Turbane: grün, orange, blau, weiß. Dass er mit seinem | |
| ergrauten Rauschebart und dem Turban – dem weißen – wie Osama Bin Laden | |
| aussieht, streitet Amarjeet Singh gar nicht ab. Singh und einige andere | |
| Sikhs haben sich vor ihrem Tempel in der Berliner Kögelstraße eingefunden. | |
| Richtig voll sei das zum Gebetshaus umfunktionierte Werkstattgebäude nur | |
| sonntags, erzählt Singh. | |
| Als praktizierender Sikh trägt der 75-Jährige nicht nur Bart und Turban. | |
| Sämtliche Haare am Körper wachsen zu lassen gilt im Sikhismus als Zeichen | |
| des Respekts vor der Schöpfung. Auch Frauen, die sich ebenfalls nicht die | |
| Haare schneiden, bedecken ihren Kopf mit einem dünnen Stofftuch oder einem | |
| Turban. | |
| „In Deutschland ist ja zum Glück noch nichts Großes passiert“, sagt Singh, | |
| Gemeindesprecher der Berliner Sikhs. Aber ein ungutes Gefühl mache sich in | |
| der deutschen Sikh-Gemeinde nach dem Anschlag in den USA schon breit. Dort, | |
| in Oak Creek, Wisconsin, hatte ein mutmaßlich Rechtsradikaler vor kurzem | |
| einen Tempel der Sikhs gestürmt und sechs Menschen getötet, bevor er sich | |
| selbst in den Kopf schoss. | |
| Oak Creek, Berlin – die Situation der Sikhs in den beiden Städten ist in | |
| etwa vergleichbar. Auch in der deutschen Hauptstadt leben nur wenige | |
| hundert Anhänger der Sikh-Religion, erzählt Singh, die meisten sind wie er | |
| aus Indien eingewandert. | |
| ## „Ah, da kommt der Bombenleger“ | |
| Auf 300 Mitglieder schätzt er seine Gemeinde. Dass nur wenige Deutsche über | |
| die Sikhs Bescheid wüssten und viele sie mit strenggläubigen Muslimen | |
| verwechselten, nimmt Singh mit Humor. „Was aber schmerzhaft ist“, sagt er, | |
| „ist die Verwechslung mit Taliban oder al-Qaida.“ Ein Vorstandsmitglied | |
| seiner Gemeinde habe einmal im Postamt angestanden. Da habe einer in der | |
| Schlange gerufen: „Ah, da kommt der Bombenleger.“ | |
| Vielleicht war das nur ein schlechter Scherz, aber eine Verwechslung soll | |
| auch das Blutbad in Oak Creek ausgelöst haben. Augenzeugen hatten | |
| berichtet, dass der Amokläufer eine 9/11-Tätowierung am Arm getragen habe. | |
| Das US-Bundeskriminalamt FBI ermittelt derzeit zur Frage, ob dies im | |
| Verständnis des Attentäters eine Art Rachetat für die von radikalen | |
| Islamisten verübten Anschläge vom 11. September gewesen sein könnte. | |
| Mit dem Islam habe der Sikhismus jedoch gar nichts zu tun, meint Amarjeet. | |
| Trotzdem hätten gerade Sikhs wegen ihres auffälligen Äußeren eine harte | |
| Last zu tragen. „Hier im Ausland haben viele junge Sikhs schon im | |
| Schulalter zu kämpfen“, berichtet er. „Nur die Starken halten am Turban und | |
| dem Bart fest.“ | |
| Die Religionswissenschaftlerin Gabriele Yonan beobachtet, dass „besonders | |
| nach den Anschlägen vom 11. September viele junge Leute den Turban abgelegt | |
| haben“. Ob man dann allerdings weiterhin Sikh bleibe, das werde hitzig | |
| diskutiert, berichtet die Kennerin der deutschen Sikh-Szene. | |
| Gemeindesprecher Singh zeigt sich in dieser Frage gelassen. | |
| ## Gestutzter Bart und geschnittenes Haar | |
| Die Hälfte der Mitglieder, die sonntags in den Tempel komme, trage keinen | |
| Turban im Alltag. Auch ein gestutzter Bart und geschnittenes Haar seien | |
| nicht unüblich. „Man denkt pragmatisch“, sagt er. „Arbeitsbedingt.“ Der | |
| Berufsprediger seiner Gemeinde würde das aber strikt ablehnen, natürlich. | |
| Der Prediger – er trägt einen orangefarbenen Turban – steht dabei, spricht | |
| aber kein Deutsch. Sein Name ist Kashmir Singh; mit Amarjeet Singh ist er | |
| nicht verwandt. Alle Sikh-Männer tragen den Nachnamen Singh, auf Panjabi | |
| bedeutet das Löwe. Die Sikh-Frauen heißen Kaur, Prinzessin. „Der gemeinsame | |
| Name drückt die Gleichheit aller Menschen aus“, erklärt Singh, der | |
| Gemeindesprecher. | |
| Diese Gleichheit symbolisiere auch der Goldene Tempel. Er ist das höchste | |
| Heiligtum der Sikhs, in Amritsar, im indischen Bundesstaat Punjab. Das | |
| triste Treppenhaus in der Kögelstraße schmückt ein Poster des Tempels. Auf | |
| dem Bild erkennt man vor dem prächtigen Gebäude den im 15. Jahrhundert | |
| geborene Guru Nanak, auf den die Religion der Sikhs zurückgeht. „Der | |
| Goldenen Tempel hat vier Türen“, erklärt Amarjeet. „In jede Himmelsrichtu… | |
| eine.“ Egal, welcher Kaste man angehöre, im Tempel seien alle willkommen. | |
| Und das sei auch in der Kögelstraße nicht anders, sagt Amarjeet. Sonntags, | |
| wenn die deutschen Sikhs ihren Hauptgottesdienst abhalten, schauten | |
| manchmal auch Muslime und Hindus vorbei. Ab und zu würden ganz normale | |
| Studierende in den Tempel kommen, die frisch nach Berlin gezogen sind und | |
| einfach Anschluss suchen – oder vielleicht auch nur am gemeinsamen | |
| Mittagessen teilnehmen wollen, dem traditionellen Langar. | |
| ## Bier gibt es nicht | |
| Der Speisesaal im Keller des Tempels erinnert an ein Vereinshaus. Doch | |
| statt Mannschaftsfotos hängen Bilder von Sikh-Gurus an den Wänden. Bier und | |
| andere alkoholische Getränke gibt es nicht. Auch wenn religiöse Riten und | |
| Dogmen in der Sikh-Religion eine untergeordnete Rolle spielen, an bestimmte | |
| Vorschriften sollen Sikhs sich halten. | |
| „Alkohol sollte man nicht trinken“, sagt Gemeindemitglied Harbhajan Singh, | |
| der als Wissenschaftler nach Deutschland kam und heute für die Daimler AG | |
| arbeitet. „Trotzdem ist das sehr üblich, sogar die Regel.“ | |
| Fleisch ist dagegen nicht die Regel, jedenfalls nicht, wenn sich die | |
| Berliner Sikhs nach dem Gottesdienst zum gemeinsamen Essen im Speisesaal | |
| treffen. Viele Sikhs essen kein Fleisch. Das sei keine religiöse | |
| Vorschrift, erklärt Amarjeet, mache aber alles einfacher. | |
| Religionen in Asien hätten es ja generell nicht so mit dem Fleischkonsum. | |
| Stolz führt er durch die Küche des Tempels: „Kochen und Abwaschen machen | |
| bei uns übrigens die Männer“, erzählt er. Damit die Frauen mal einen Tag | |
| Ruhe hätten von der Hausarbeit. | |
| ## Dem Prediger lauschen | |
| Einen offiziellen Beginn hat der sonntägliche Gottesdienst bei den Sikhs | |
| nicht. „Bis zum Mittagessen sind aber meistens alle da“, sagt Amarjeet | |
| lächelnd. Vorher kann jeder und jede kommen, wann es passt. Nach und nach | |
| sammeln sich dann die Gemeindemitglieder in dem Tempelraum im Erdgeschoss, | |
| um zu beten und dem Prediger zu lauschen. | |
| Dieser eigentliche Tempel, eine ehemalige Malereiwerkstatt, ist mit | |
| Teppichboden ausgelegt. An den Wänden hängen Blumen, selbst gebastelt aus | |
| Krepppapier. Was den Raum aber zum Tempel macht, ist das Heilige Buch. Es | |
| liegt auf einem Altar, der mit Blumen, Hawaiiketten und blinkenden | |
| Lichterketten geschmückt ist. Von der tiefhängenden Decke rankt eine | |
| Plastikpflanze. | |
| Einige der Gemeindemitglieder mit den bunten Turbanen haben den Tempel | |
| betreten, verbeugen sich vor dem Heiligen Buch und setzen sich im | |
| Schneidersitz auf den Boden, um der Rezitation Kashmir Singhs, des | |
| Berufspredigers, zu lauschen. Für Laien klingt es fast wie eine | |
| Koranrezitation, wenn Kashmir die Hymnen des Heiligen Buchs vorträgt. | |
| Mit dem Islam – Amarjeet wiederholt es – habe das aber nichts zu tun, | |
| obwohl das Buch der Sikhs auch Texte einiger Muslime enthält. „Das Guru | |
| Granth ist eine Sammlung vieler Schriften“, sagt er, sichtlich stolz auf | |
| die Vielfalt und Offenheit, für die der Sikhismus bekannt ist. „Nur sechs | |
| von den 36 Autoren sind Sikh-Gurus.“ Er zeigt auf eine Liste der Autoren, | |
| die neben Sikhs und Muslimen vor allem Hindus aufführt. | |
| ## Die Sikhs setzten auf Aufklärung | |
| Das Heilige Buch, erklärt Amarjeet, sei der letzte Guru, die letzte | |
| religiöse Autorität der Sikhs. Dem zehnten leibhaftigen Guru nach | |
| Religionsstifter Guru Nanak sei nur noch das Heilige Buch gefolgt. Amarjeet | |
| schätzt, dass es in Deutschland etwa zwei Dutzend Exemplare des Buches gibt | |
| – und ebenso viele Tempel, denn wo ein vollständiger Guru Granth ist, darf | |
| der Tempel nicht fehlen. | |
| Wie viele Sikhs hierzulande genau leben, ist schwer zu sagen. Eine | |
| Dachorganisation der deutschen Sikhs gibt es nicht. | |
| Religionswissenschaftlerin Yonan geht von einigen tausend aus. Andere | |
| Schätzungen nennen bis zu 15.000. | |
| Nach dem Anschlag in den USA setzen die Sikhs in Deutschland auf | |
| Aufklärung, um für Toleranz gegenüber Bart und Turban zu werben. Vor allem | |
| wolle man den Unterschied zu strenggläubigen Muslimen betonen, sagt | |
| Harbhajan, der Daimler-Mitarbeiter. | |
| Am 1. September, wenn zahlreiche Religionsgemeinschaften bei der erste | |
| Langen Nacht der Religionen in der Hauptstadt ihre Pforten öffnen, steht | |
| auch der Tempel in der Kögelstraße für Besucher offen. „Wir Sikhs müssen | |
| aktiv werden“, sagt Harbhajan. „Und klarmachen: Das sind Sikhs, keine | |
| Taliban.“ | |
| 13 Aug 2012 | |
| ## AUTOREN | |
| Jannis Hagmann | |
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