| # taz.de -- Debatte Bürger-Emanzipation: Halbe und ganze Freiheit | |
| > Konservative haben zu den aktuellen Bedrohungen der Freiheit nichts zu | |
| > sagen. Ihre Macht verbreitet Angst und macht die Bürger unmündig. Höchste | |
| > Zeit zu Handeln. | |
| Bild: Können sich nicht mehr selbst befreien: Domestizierte Spezies – die Kn… | |
| Adelheid Popp, eine der frühesten Aktivistinnen der österreichischen | |
| Arbeiterbewegung, beschreibt in ihren Lebenserinnerungen, wie der | |
| Fabrikbesitzer sie einmal zu sich zitierte: „Der Fabrikant erwartete mich | |
| mit der sozialdemokratischen Zeitung in der Hand. | |
| Unter einem Aufruf, für den Preßfonds zur Gründung einer | |
| sozialdemokratischen Frauenzeitung zu sammeln, stand auch mein Name! Er | |
| fragte mich, ob ich diese Zeitung kenne und ob ich den Aufruf | |
| unterschrieben habe. Auf meine bejahende Antwort sagte er ungefähr: „Ich | |
| kann Ihnen keine Vorschriften machen, wie Sie Ihre freie Zeit verwenden | |
| wollen, um das eine bitte ich Sie aber: In meiner Fabrik unterlassen Sie | |
| jede Agitation für diese Zwecke. “ | |
| Die junge Adelheid Popp hat sich für die sozialen Belange der Arbeiterinnen | |
| eingesetzt. Sie beschreibt Unfreiheits- bzw. Freiheitserfahrungen: das | |
| Verbot, im Betrieb den Mund aufzumachen, die Demütigung durch den Chef, die | |
| Angst, die Stelle zu verlieren; und andererseits das Glücksgefühl, mit | |
| anderen für die gemeinsame Sache einzustehen und sich nicht einschüchtern | |
| zu lassen. | |
| ## Linke stehen für Gängelung? | |
| Man könnte Hunderte solcher Exempel und Episoden anführen, und sie alle | |
| würden verdeutlichen: Natürlich waren progressive Bewegungen immer in | |
| erster Linie Freiheitsbewegungen. Es ist nicht zuletzt vor diesem | |
| Hintergrund regelrecht bizarr, dass sich heute die Konservativen und | |
| Neoliberalen als „Verteidiger der Freiheit“ aufspielen und den Linken das | |
| Etikett anpicken, sie wären für „Gängelung“. Und es ist nicht minder | |
| pervers, dass heute der Begriff der „Freiheit“ primär mit | |
| „Wirtschaftsfreiheit“ identifiziert wird. | |
| Freiheitsbedrohungen speisen sich heute aus Quellen, zu denen die | |
| konservativen und wirtschaftsliberalen Dampfplauderer nichts zu sagen | |
| haben. Sie kämpfen andauernd gegen abgenudelte Gespenster von gestern und | |
| gegen Probleme, die niemand hat. | |
| Materielle Privilegien führen nicht nur dazu, dass die einen größere | |
| Freiheit haben, ihre Talente zu entwickeln und ein selbstbestimmtes Leben | |
| zu führen, als die anderen, sie führen auch zu einem privilegierten Zugang | |
| zu Macht. Begüterte Lobbys können heute Gesetze kaufen und ihren Einfluss | |
| geltend machen, während die normalen Bürger das Gefühl haben, dass niemand | |
| auf sie hört. Nicht dass dieses Publikum seiner Freiheit beraubt wäre. Alle | |
| vier Jahre darf es wählen. Aber es schleppt sich ohne viel Elan an die | |
| Urnen. | |
| Im Herbst 2011 beantwortete die deutsche Kanzlerin Journalistenfragen über | |
| die Eurorettungsprogramme und die Rechte des Parlaments. Im Zuge dieser | |
| Pressekonferenz passierte ihr ein Lapsus, der beinahe untergegangen wäre. | |
| Man müsse Wege finden, sagte Angela Merkel, die parlamentarische | |
| Mitbestimmung so zu gestalten, „dass sie trotzdem marktkonform ist“. Bürger | |
| können sich für manches starkmachen, gewählte Parlamentarier für dieses und | |
| jenes votieren – aber Dinge, die die Märkte „beunruhigen“, ihr Misstrauen | |
| wecken oder gar „von den Märkten bestraft“ würden, haben sie gefälligst … | |
| unterlassen. | |
| ## Die Angst der Bürger | |
| Freiheitsrevolten gingen oft von der Kunst oder den Universitäten aus. | |
| Künstler und Hippies nisteten sich im brachliegenden, billigen oder | |
| kostenlosen städtischen Raum ein und setzten neue Lebensstile durch. Der | |
| Wandel in der Arbeitswelt, etwa der Aufstieg der „kreativen Klassen“ und | |
| die „neue Selbstständigkeit“, sind selbst Reaktionen auf diese Energien. | |
| Diese Befreiungsversuche hatten – selbst wenn sie sehr wohl auch | |
| emanzipatorische Wirkungen zeitigten –, im Endeffekt auch neue Formen der | |
| Knechtung zur Folge: Mit der Erosion des Normalarbeitsverhältnisses | |
| verbreiteten sich neue Zonen der Prekarität, mit der Individualisierung | |
| griff das „Recht des Stärkeren“ wieder um sich. Und Kommerzialisierung | |
| zerstört Freiräume. Kurzum: Die Befreiungsversuche hatten neue Gefährdungen | |
| der Freiheit zur Folge. | |
| Würde man die in solch chronischer Unsicherheit arbeitenden Bürger (und | |
| nicht nur sie) fragen, wovon sie gern „frei“ wären, dann würden sie wohl | |
| spontan antworten: von Angst. Die Angst, zwar heute gerade noch seinen | |
| Lebensunterhalt bestreiten, morgen aber womöglich die Miete nicht mehr | |
| bezahlen zu können, diese chronische Unsicherheit, hat sich in die Mitte | |
| der Gesellschaft hineingefressen. Diese Angst ist heute womöglich die | |
| größte Bedrohung der Freiheit. | |
| Die Konservativen und Wirtschaftsliberalen haben zu all diesen Bedrohungen | |
| und all diesen realen Beschränkungen der Freiheit des Einzelnen schlicht | |
| nichts zu sagen, stilisieren sich aber dennoch als die großen Champions der | |
| Freiheit. Und die Progressiven haben ihnen den Begriff der Freiheit | |
| kampflos überlassen. Es ist an der Zeit, dass sie ihn zurückerobern. | |
| ## Die halbe Freiheit haben wir | |
| Die Progressiven sind die eigentlichen Kräfte der Freiheit, weil ihr | |
| Freiheitsbegriff umfassend ist. Sie sind nicht nur gegen obrigkeitlichen | |
| Zwang, gegen Zensur oder Konformitätsdruck und für Meinungsfreiheit. Sie | |
| haben auch ein waches Sensorium für die freiheitseinschränkenden Wirkungen | |
| grober materieller Ungleichheit. | |
| Freiheit heißt, nicht kommandiert zu werden. Freiheit heißt, seine Stimme | |
| erheben zu können und gehört zu werden. Freiheit des Einzelnen heißt auch, | |
| dass jeder Einzelne gleich viel Wert ist. Freiheit heißt aber auch, nicht | |
| nur die theoretische Freiheit zu haben, sich auszuprobieren, sondern auch | |
| über die Ressourcen zu verfügen, die das praktisch ermöglichen. | |
| Es sind diese stetigen Versuche Einzelner oder von Gruppen, die der | |
| Freiheit etwas Vibrierendes und auch Romantisches geben. Demokratische | |
| Freiheit heißt nicht zuletzt, dass man die Möglichkeit hat, den Dingen eine | |
| ganz andere Richtung zu geben, dass man immer aus dem Gewohnten, das sich | |
| als „Sachzwang“ tarnt, ausbrechen kann. Freiheit ohne Freiheit von Angst | |
| ist halbe Freiheit. Freiheit ohne die Möglichkeit, sie auch zu leben, ist | |
| halbe Freiheit. | |
| Wir haben die halbe Freiheit verwirklicht. Das ist keine kleine Sache. Wir | |
| müssen aber die Mentalität angreifen, die so tut, als sei mehr auch nicht | |
| drin. Die ganze Freiheit wartet noch auf ihre Verwirklichung. | |
| 14 Aug 2012 | |
| ## AUTOREN | |
| Robert Misik | |
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