# taz.de -- Gemeinsame Mahlzeiten?: Esst euern Scheiß doch alleine! | |
> Ständig werden die gemeinsamen Mahlzeiten gepriesen. Dabei birgt nichts | |
> so viel zwischenmenschliche Sprengkraft wie zusammen kochen und essen. | |
> Ein Pamphlet. | |
Bild: Mahlzeit! Vielleicht hätten ja beide mehr Spaß, wenn sie die Essensaufn… | |
Familien tun es viel zu selten, die Weltgesundheitsorganisation ist schon | |
alarmiert: Zusammen essen – superwichtig! Auch Verliebten wird zum | |
Candlelight geraten. Liebe geht angeblich durch den Magen. | |
Glaubt man Amazon, sind allein in diesem Jahr schon 115 neue Kochbücher auf | |
den Markt gekommen. Egal zu welcher Uhrzeit man durchs Fernsehen zappt – | |
ein oder zwei Kochsendungen laufen sicherlich. Und die Menschen geben | |
inzwischen mehr Geld für Kochwerkzeuge aus als für den Rest ihrer Wohnung. | |
Brotbackmaschinen, Kochkurse und Gourmetreisen scheinen in zu sein. | |
Stundenlang können die neuen Teig- und Tomatenexperten über ihren guten | |
Geschmack monologisieren, ein Feinschmecker darf sich dem pragmatischen | |
Esser auch menschlich überlegen fühlen. Kaum ein Marketingsatz der | |
Lebensmittelindustrie wird so oft nachgeplappert wie: „Keine Nation gibt so | |
wenig Geld für Essen aus wie wir Deutschen!“ Stets mit dem Gefühl, damit | |
etwas besonders Wichtiges gesagt zu haben. | |
Dass essen, kochen, gastronomieren wichtig, gesund, sozial und gerecht | |
seien, ist ein Gemeinplatz, vor dem man nirgends sicher ist. Am | |
allerwenigsten im eigenen Freundeskreis. | |
Aber was ist das eigentlich für ein fadenscheiniges Hobby, dieses essen, | |
schmecken, rumgedünste? Und verdienen Durst und Appetit wirklich so viel | |
soziale Anerkennung? Schlucken kann schließlich jeder. Dem ganzen Gerede um | |
Lachs und Limetten mutet zudem etwas Beliebiges, wenn nicht gar | |
Dünkelhaftes an. | |
Früher hieß es in der Joghurt-Werbung noch: „So wertvoll wie ein kleines | |
Steak.“ Mit fettem Lachs fütterte man im 19. Jahrhundert die Proletarier. | |
Heute leiden eh alle unter Laktoseintoleranz, man verzehrt sich nach Lachs | |
und isst statt Fleisch lieber tonnenweise Rhabarber. Den man früher für ein | |
Unkraut hielt. Denn von zu viel Rohkost bekommt man eigentlich Blähungen. | |
## Die meisten Ehen werden beim Essen geschieden | |
Dass gemeinsam essen glücklich macht, ist zudem eine gefährliche | |
Fehleinschätzung. Man sagt ja, die meisten Ehen würden im Urlaub | |
geschieden. Eine kleine Präzisierung: Die meisten Ehen werden beim Essen | |
geschieden. Man hat nur in den Ferien so viel Zeit dazu. | |
Und beim Kochen. Denn dabei treten nur die schlechtesten Eigenschaften zum | |
Vorschein. Rechthaberei zum Beispiel. Ob man Rüben lieber quer schneidet, | |
auf Teflon nicht mit Messing kratzt oder Teekannen eine Patina brauchen – | |
der Partner hat dazu gewiss eine Meinung, nämlich die genau | |
entgegengesetzte. Und würde lieber sechs Monate lang auf die Macht an der | |
Fernbedienung verzichten, als in diesen Punkten nachzugeben. Es geht ums: | |
Eingemachte. | |
Wundert es eigentlich niemanden, dass schon die Vorfahren so viel über | |
Tischmanieren und Besteck nachgedacht haben? Norbert Elias beschreibt in | |
seinem Standardwerk „Über den Prozess der Zivilisation“ wie viel Zeit | |
vergehen musste, bis die Menschen lernten, die erlegte Beute friedlich zu | |
teilen. Wehe, da schmatzte einer und erinnerte daran, dass man das ganze | |
Bison nicht für sich haben konnte. | |
Doch hundert Jahre Knigge, volle WG-Kühlschränke, geräuschmindernde | |
Werkzeuge wie Messer und Löffel und ein eigener Napf für jeden kleinen | |
Bisonjäger bedeuten längst nicht, dass der Futterneid im Stammhirn | |
schweigen würde. Unter der dünnen Schicht aus Serviettenstoff und Porzellan | |
brodelt es weiter. Und nicht zuletzt ist der tödlichste aller | |
Familienkonflikte die Magersucht, die psychische Krankheit mit den | |
besonders schlechten Heilungschancen. | |
Mehr Todesfälle als im Straßenverkehr, ein Unglück alle zwei Minuten: | |
Bekanntlich passieren auch die meisten Unfälle im Haushalt. Laut einer | |
Studie der Allianz-Versicherungen aus dem Jahr 2011 ist die Küche der | |
gefährlichste Ort, verantwortlich für 32 Prozent aller Wunden, Brüche, | |
Verbrennungen. Wer weiß, wie oft ein Familienmitglied insgeheim die Finger | |
im Spiel hatte. | |
## Krieg der Töpfe | |
In Literatur und Kino ist das lange schon bekannt. Kaum ein Szenario vermag | |
so viel Beklemmung zu transportieren wie: die Familie am Esstisch. Ellbogen | |
ängstlich an den Körper gedrückt, der Rücken überstreckt, der Kopf gebeugt. | |
Besteck kratzt über den Teller. Hinter einer harmlos klingenden Frage – | |
„Kannst du mir mal die Butter reichen?“ – können sich Abgründe auftun. … | |
den Filmen „Das weiße Band“ oder „Das Fest“, im Roman „Die Korrektur… | |
Immer wieder passiert es beim Essen. Am Weihnachtsabend kumulieren die | |
Gefühle. Totalkatastrophe. Krieg der Töpfe. | |
„Das Muschelessen“ heißt eine 1990 mit dem Bachmannpreis ausgezeichnete | |
Erzählung von Birgit Vanderbeke. Miesmuscheln sind das Lieblingsessen des | |
Vaters. Konsequenterweise werden die schlüpfrigen Dinger den ganzen Abend | |
über nicht angerührt. Am Schluss landen sie im Mülleimer – und die Familie | |
befreit sich aus der Despotie des Vaters. | |
Horrorfilme beginnen gern mit einer Nahrungszubereitung. Denn genau dahin | |
führt ein Essen: ins Gemetzel. Die beste Szene in „Scream“ ist der Anfang | |
der ersten Folge. Drew Barrymore will Popcorn machen und stellt eine | |
Alupfanne auf den Herd. Hätte sie das bloß gelassen. Während sich das Teil | |
zu einem scheußlichen Klumpen aufbläht, nimmt das Unheil seinen Lauf. Am | |
Ende hängt Drew ausgeweidet an der Familieneiche, die Küche raucht. | |
Bei Michael Hanekes „Funny Games“ eskaliert die Gewalt der psychopathischen | |
Ferienhausbesucher ebenfalls beim Essen. In logischer Konsequenz hält der | |
Mörder im „Schweigen der Lämmer“ sein Opfer beständig dazu an, die eigene | |
Haut mit Lotion einzureiben. Wie einen Hähnchenbraten. Hänsel und Gretel, | |
Deutschlands bekanntestes Märchen: Es handelt genau betrachtet nur von | |
Familie, Fressen und Gefressenwerden. | |
## Zum Aufessen gezwungen | |
In so manchem deutschen Haushalt wird noch immer zum Aufessen gezwungen. | |
Weshalb Labskaus, Rosenkohl und Fettränder wohl nie aussterben. | |
Teenager, die Mahlzeiten im Familienkreis einnehmen, greifen weniger oft zu | |
Drogen, behauptet eine Studie der Uni Illinois. Zudem sei bemerkt worden, | |
dass diese Kinder ein deutlich größeres Vokabular besäßen, behauptet | |
Professorin Barbara Fiese. Worin der Wortschatz genau besteht, verrät sie | |
nicht. | |
Hinter andauerndem Lob der Nahrungsaufnahme lassen sich nicht nur | |
Essstörungen, sondern auch persönliche Unzulänglichkeiten verstecken. Wer | |
sich ununterbrochen aufs Essen konzentriert, muss sich nicht am Gespräch | |
beteiligen. Und wer sich beim Geschäftsessen nicht gut zu betragen – und | |
durch kluge Beiträge zu beweisen – weiß, der muss eben leider draußen | |
bleiben. | |
Das Schlimmste jedoch ist, dass Millionen von Menschen sich täglich mit | |
unnützen Emotionen herumschlagen. Sie werden den Fehler bei sich suchen. | |
Die schlechte Laune weitergeben. Ihre Mitmenschen hassen. Dabei ist es mehr | |
als menschlich, sich vor kleckernden, gierig schlürfenden Sitznachbarn zu | |
ekeln. Nur konsequentes Alleinessen könnte helfen. | |
19 Aug 2012 | |
## AUTOREN | |
Tina Klopp | |
## TAGS | |
Essen | |
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