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# taz.de -- Sexuelle Gewalt: Wir, das Täterumfeld
> Täglich landet ein neuer Fall sexualisierter Gewalt vor Gericht: Das ist
> kein Sommerthema, sondern ein sozialer Tatbestand – den es zu verstehen
> gilt.
Bild: Täter ohne Gesicht: Der mutmaßliche Möder von Lena.
BERLIN taz | In Kiel ist es ein Schwimmtrainer, in Stralsund ein
Übungsleiter für Segeln. In Magdeburg sitzt ein Rentner auf der
Anklagebank, in Braunschweig ein Busfahrer. In Emden geht es um einen
18-Jährigen, und in Schwedt wird der Prozess gegen einen 32-jährigen Mann
neu aufgerollt. Allen diesen Verhandlungen ist gemeinsam, dass es um
Missbrauch geht, um sexuelle Gewalt.
Wahrscheinlich sind es nicht mehr Delikte gegen die sexuelle
Selbstbestimmung als früher, die man gerade versucht zu ahnden. Nur setzen
die Agenturen es öfter auf die Vorschauen, die durch den Nachrichtenticker
rauschen; und in den Zeitungen denkt man jetzt darüber nach, hochsensible
Missbrauchsredakteure einzustellen. Nein, das geschieht selbstverständlich
nicht – so genau will es dann doch niemand wissen.
Nur solange es um Mord geht wie in Emden, wo der 18-jährige mutmaßliche
Täter die kleine Lena wahrscheinlich erwürgt hat, gibt es einen, auf den
man voller Abscheu zeigen kann: den Verbrecher, den Fremden. Aber was tun,
wenn es der Busfahrer ist, der Tag für Tag behinderte Kinder sicher in die
Schule bringt? Oder der tolle Trainer, der Opa oder gar der Lebensgefährte?
Das glaubt man nicht. Das kann man nicht glauben.
Das ist die zweite Gemeinsamkeit all der Fälle: Sie sind unfassbar und
unglaublich. Egal ob es um Mord geht. Oder um die Vergewaltigung eines elf
Jahre alten behinderten Mädchens in einem Waldstück. Oder ob es Sex mit
einer 16-jährigen Schutzbefohlenen war – mit ihrem psychologischen
Betreuer. Die stärkste Lobby des Täters ist sein Umfeld, es steht fast
immer zunächst auf seiner Seite.
## Zweite Attacke auf die Opfer
Er traue ihm die Taten bis heute nicht zu, sagt etwa der Vorsitzende des
Segelclubs über jenen Trainer, der in mindestens acht Fällen Mädchen
zwischen 11 und 14 Jahren missbraucht haben soll. Er möchte nicht
vorverurteilen, sagt der Vereinschef. Der Trainer habe immer sehr engagiert
gearbeitet. Sollten sich die Vorwürfe bewahrheiten, tue es ihm um die
Kinder leid.
Das ist die typische und irgendwie auch verständliche Reaktion. Aber sie
ist eine zweite schwere Attacke auf die Opfer. Denn sie, denen etwas
Schreckliches widerfahren ist, erleben Solidarität – mit dem Täter. Nur
wenn es tatsächlich so gewesen sein soll, dann, nur dann tut es uns auch
für sie leid.
„Wir können es vor uns selbst nicht zulassen, dass unser Bekannter, der
nette Mann von nebenan oder unser charismatischer Trainer der Vergewaltiger
eines Kindes ist“, beschreibt Julia von Weiler dieses Phänomen. Sie leitet
die Anti-Cyber-Missbrauchs-Initiative „Innocence in Danger“. „Der Täter …
ein Teil unseres nächsten Umfelds – das wollen die Menschen nicht
begreifen. Und das hindert die Gesellschaft ganz allgemein daran, endlich
effektive Schritte gegen sexuelle Gewalt zu unternehmen. Weil wir uns
dagegen wehren, verstehen wir es nicht.“
## Missbrauch hört nie auf
Was die Mediengesellschaft gerade schmerzhaft erfährt, ist das, von dem
Opfer stunden-, tage-, jahrelang berichten, wenn man ihnen zuhört:
Missbrauch hört nie auf, er vergeht nie. Sexuelle Gewalt ist kein
Scheinriese, der uns die Sonne dieses Sommerlochs verschattet, sondern es
ist ein (a)sozialer Tatbestand, der Tür an Tür mit uns wohnt. Zu zwei
Dritteln findet er sogar hinter derselben Tür statt, weil es etwa so viele
Fälle sind, die in der eigenen Familie geschehen.
Gerade wenn wir uns eingestehen, dass die Tat im Umfeld der scheinbar
liebsten und besten Absichten geschieht, etwa in lustigen Parkeisenbahnen,
heiligen Sakristeien oder reformpädagogischen Wunderschulen, müssen wir
nüchtern werden: Es geht nicht nur um Befriedigung, sondern um Macht. Der
Trainer hat Macht über die Schwimmerin, der Busfahrer über das behinderte
Kind, der Opa über seine Enkel – und missbraucht sie. Deswegen sprechen
Experten von sexualisierter Gewalt.
Vielleicht sollten wir mal in den Zoo gehen und zusehen, wie Paviane oder
Bonobos ihr Rudel regieren – und unseren besten Freund mal in die Position
des Oberaffen denken. Dann verstehen wir Missbrauch besser. Und diesen
Sommer voller Prozesse.
22 Aug 2012
## AUTOREN
Christian Füller
## TAGS
Mord
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