# taz.de -- Debatte Wallraff: Am Ende doch ein guter Journalist | |
> Hinter den Vorwürfen gegen Günter Wallraff stehen menschliche | |
> Enttäuschungen, keine Skandale. Das sollte auch der "Spiegel" wissen. | |
Es ist Juni 1987. Auf dem Titel des Spiegels prangt eine Ankündigungszeile, | |
die es in sich hat: „Die Türken packen aus“, zu einem Artikel über Günter | |
Wallraff. Damals war Wallraffs größter Bucherfolg, „Ganz unten“, für den… | |
in die Rolle eines türkischen Arbeiters geschlüpft war, noch keine zwei | |
Jahre alt. | |
Noch im Oktober 1985 hatte der Spiegel einen Vorabdruck des Buchs | |
übernommen und damit nicht unwesentlich zum Erfolg beigetragen. Jetzt, | |
knapp zwei Jahre und fast 3 Millionen verkaufte Exemplare später, kam die | |
kalte Dusche. „Die Türken“, genauer gesagt zwei ehemalige türkische | |
Mitarbeiter von Wallraff, packten aus. | |
In einem ausführlichen Interview ließ der Spiegel zwei Leute zu Wort | |
kommen, von denen der eine einen wichtigen Anteil am Zustandekommen von | |
„Ganz unten“ hatte und der andere später ein von Wallraff eingerichtetes | |
Solidaritätsbüro leitete. Beide beklagten sich bitter über ihn. Lässt man | |
einmal alle Details beiseite, ging es darum, dass Wallraff zuvor geweckte | |
politische und persönliche Erwartungen schwer enttäuschte, was bei beiden | |
zu einer großen Verbitterung geführt hatte. Wallraff, so ihr Fazit, sei | |
nicht besser als die Ausbeuter, die er in seinem Buch anprangert. | |
Einmal in der öffentlichen Kritik, meldeten sich prompt weitere ehemalige | |
Mitstreiter. Uwe Herzog, der schon an früheren Büchern mitgewirkt hatte und | |
sich dann auch bei „Ganz unten“ wieder engagierte, fühlte sich ausgenutzt | |
und sah seinen Anteil am Buch nicht genügend gewürdigt. Zu guter Letzt | |
setzte Konkret-Chef Hermann Gremliza allem die Krone auf, indem er | |
behauptete, nicht Wallraff, sondern er habe das Buch „Der Aufmacher“ über | |
dessen Undercover-Recherche bei Bild geschrieben. | |
## Leistungsdruck und Vorwürfe | |
Wallraff könne überhaupt nicht schreiben, und folglich könne auch „Ganz | |
unten“ nicht von Wallraff sein. Es waren schwere Brocken, die Günter | |
Wallraff damals an den Kopf geworfen bekam. Sie alle erzählten eine | |
Geschichte darüber, wie aus engster Verbundenheit tiefste Abneigung wurde. | |
Wallraff hat nach dem Welterfolg von „Ganz unten“, einem Buch, das wie kein | |
anderes dazu beitrug, dass türkische Migranten in der damaligen | |
Bundesrepublik endlich als integraler Bestandteil des Landes gesehen | |
wurden, lange kein weiteres großes Projekt mehr angefasst, weil die | |
Erwartungen, dass das Spektakel von „Ganz unten“ noch einmal getoppt würde, | |
so groß waren, dass sie auch von Wallraff nicht erfüllt werden konnten. | |
Dann kamen der Zeitenwechsel von 1989 und schließlich ganz neue Vorwürfe. | |
Wallraff sei ein Stasi-IM gewesen, hieß es, und die Abwehr dieses Vorwurfs | |
kostete ihn viel Kraft. Aber zum Teil war sein zeitweiliger Rückzug sicher | |
auch darauf zurückzuführen, dass ihn die überzogene Kritik aus dem eigenen | |
Lager schwer getroffen hatte. | |
Schon das spricht dafür, dass Günter Wallraff nicht der eiskalte Abzocker | |
ist, als den ihn einige ehemalige Mitarbeiter nun darstellen. Aber er ist | |
auch nicht der Kumpel, als den ihn einige Leute, in der Regel zu Beginn | |
einer Mitarbeit, sehen wollten. Ein Kumpel, mit dem sie auf Augenhöhe | |
zusammenzuarbeiten glauben. Wallraff ist vielmehr ein hoch komplizierter, | |
eigenwilliger Mensch, der bereit ist, zum Erreichen eines Ziels | |
Entbehrungen und Risiken auf sich zu nehmen, die weit über das hinausgehen, | |
was andere Journalisten für denkbar erachten. | |
## Guru und Verräter | |
Der Auftritt von André Fahnemann, dem jetzt der Spiegel ein Podium bot, | |
kann alle diejenigen, die Wallraff ein wenig besser kennen, deshalb nicht | |
überraschen. Aus der Überidentifikation mit dem Meister wird abgrundtiefe | |
Enttäuschung, wenn sich herausstellt, dass Wallraff kein Heiliger ist, | |
sondern die Zusammenarbeit mit ihm ganz schön anstrengend sein kann. | |
Die Vorwürfe im Einzelnen sind dann in aller Regel eher moralischer Natur | |
als sachlich relevant. Wallraff ist viel zu erfahren, als dass er mit | |
falschen eidesstattlichen Versicherungen in einen Prozess gehen würde. | |
Man darf getrost davon ausgehen, dass seine Vorwürfe an den Großbäcker, der | |
für Lidl die Brötchen backen ließ, voll und ganz gerechtfertigt sind und | |
dass er das auch in einem Prozess wird belegen können. Dafür hat Wallraff | |
bereits genug ähnliche Prozesse geführt. Fahnemanns Vorwürfe klingen | |
deshalb auch eher nach der Wut eines enttäuschten Liebhabers, als dass er | |
etwas Neues über den Enthüller Wallraff zu enthüllen hätte. | |
Was man Wallraff vorwerfen kann, ist, dass er aus seinen Erfahrungen in den | |
80er Jahren nicht genug gelernt hat. Dass er für seine Arbeit Mitarbeiter | |
benötigt, ist für jeden evident, der den Umfang seiner Recherchen ermessen | |
kann. Damit könnte Wallraff öffentlich viel offensiver umgehen, es würde | |
seiner Arbeit und seinem Ansehen keinerlei Abbruch tun. Im Binnenverhältnis | |
würde das bedeuten, dass Wallraff für seine Mitarbeiter arbeitsrechtlich | |
klare Bedingungen schafft, statt sich auf Menschen zu verlassen, die in ihm | |
erst den Guru und dann den Verräter sehen. | |
## Auch von Kritikern geschätzt | |
Von vielen, vielen Leuten, die im Laufe der Jahrzehnte mit Günter Wallraff | |
zusammengearbeitet haben, sind nur wenige enttäuscht an die Öffentlichkeit | |
gegangen. Hinter diesen Fällen stecken in der Regel menschlich schwierige | |
Auseinandersetzungen, aber keine politischen Skandale. Das müssten | |
eigentlich auch die Kollegen vom Spiegel wissen. | |
Die vermeintliche Sensation ist gar keine. Was im Gespräch mit den | |
türkischen Mitarbeitern nach „Ganz unten“ noch seine Berechtigung gehabt | |
haben mag, ist heute nur noch ein müder Aufguss, mit dem sie nicht mal dem | |
Protagonisten André Fahnemann einen Gefallen tun. | |
Dass Wallraffs Arbeit viel bewirkt hat, bestreiten längst auch solche | |
Kritiker nicht mehr, die ihm politisch nicht nahestehen. Schon nach dem | |
Wirbel um „Ganz unten“ schrieb der Konservative Rudolf Großkopff im | |
Deutschen Allgemeinen Sonntagsblatt: „Wallraffs oft nervende | |
Märtyrerhaltung, seine Selbstverliebtheit, seine Humorlosigkeit und sein | |
Einfachst-Stil seiner Reportagen mögen einem missfallen. Aber darauf kommt | |
es nicht an. Er hat eine Aufgabe erfüllt und wesentlich mehr bewegt als | |
alle seine früheren Verbündeten und jetzigen Widersacher zusammen.“ | |
23 Aug 2012 | |
## AUTOREN | |
Jürgen Gottschlich | |
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