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# taz.de -- Leben in Afghanistan: Zwischen zwei Monstern
> Wie „zwischen Hammer und Amboss“ fühlen sich die Menschen in Afghanistan.
> Sie leiden unter dem Terror von Taliban und Aufständischen.
Bild: Regierungstreue afghanische Sicherheitskräfte präsentieren sechs verhaf…
MIRAI taz | Der 15-Jährige wedelt mit den Armen, als wir von der Kleinstadt
Mirai aus südlich ins nächste Dorf fahren wollen. „Seid ihr neu in der
Gegend?“, fragt er und fügt hinzu: „Fahrt nicht direkt ins Dorf, sondern
nehmt die Umleitung hintenherum. Dort sind Arbaki, die belästigen
Durchreisende und könnten euch was tun.“
Arbaki werden die regierungstreuen Milizen in der Provinz Ghasni südlich
von Kabul genannt. Schon Hadschi Saifullah hatte uns gewarnt, ein
55-jähriger Ladenbesitzer in Mirai: „Du musst eine Karte in deinem Kopf
haben, die zeigt, welches Dorf den Taliban gehört und welches den Arbaki,
wenn du dahin fährst.“ Unterscheiden kann man die beiden Gruppen kaum, denn
sie tragen die gleiche örtliche Zivilkleidung.
Mirai gehört zum Distrikt Andar in der Provinz Ghasni, zwei Stunden
Autofahrt südlich von Kabul. Jahrelang herrschten hier die Taliban. Die
Regierung hatte wenig zu sagen. Dann übernahm im April eine Gruppe
bewaffneter junger Leute aus der Gegend die Macht in Pajendi und ein paar
Nachbardörfern Andars. Ihr Anführer, der 35-jährige Rahmatullah, gehörte
früher selbst zu den Taliban.
Erst war Rahmatullah ein örtlicher Kommandeur, dann arbeitete er in der
Bildungsverwaltung der Taliban für die Provinz. Freunde Rahmatullahs, mit
denen die taz in Kabul sprach, erzählen, dass er den Kontakt zu ihnen
abgebrochen hat, als sie begannen Schulen zu schließen,
Entwicklungsprojekte zu verhindern und den Bewohnern Andars untersagten,
nach Kabul und sogar ins nahe Ghasni zu fahren, aus Furcht vor Informanten.
## Verwaiste Basare
In einer ihrer ersten Aktionen, einem Überraschungsangriff, haben
Rahmatullahs Kämpfer eine Gruppe durchziehender pakistanischer Taliban
gefangen genommen. Das Gefecht und die Wiedereröffnung von Schulen brachten
ihnen weiteren Zulauf von Leuten, denen das puritanische Regime der Taliban
zu viel geworden war.
Zum Eid-Fest am Ende des Fastenmonats Ramadan zeigt sich in Andar, wie
tiefgreifend die Taliban das Leben dort verändert haben. Einst war die
Region ein beliebtes Ausflugsgebiet für die Bewohner der nahen
Provinzhauptstadt, jetzt sind einst lebendige Basare verwaist.
Nichts ist mehr zu sehen von picknickenden Familien, von Männern, die zum
Klang der Trommeln den Paschtunen-Tanz Atan tanzten, von Reiterspielen und
Ringkämpfen. Die Taliban, die Andar bis April unumstritten beherrschten,
haben solche Belustigungen verboten. In einigen Dörfern ist es so ruhig,
als ob gar kein Feiertag wäre.
## Lokalpolitiker nutzen das Machtvakuum
Auch mit der Regierung wollten Rahmatullahs Aufständische nichts zu tun
haben. Trotzdem sprachen die meisten Medien und hohe Politiker in Kabul
beifällig von dem „Anti-Taliban-Aufstand“. Als die Taliban zurückschlugen,
nahmen die Aufständischen Hilfe aus Kabul und sogar von den amerikanischen
Truppen an, nahmen Waffen und Munition.
Das veränderte die Haltung der Bevölkerung ihnen gegenüber erheblich.
Rahmatullah wurde in den Kämpfen verwundet und ging daraufhin zur
Behandlung nach Kabul. Eine Gruppe von Lokalpolitikern, die von den Taliban
verdrängt worden waren, stieß sogleich in die Lücke. Sie gehören zur
Islamischen Partei (IP), die vor der Zeit der Taliban die Region Andar
beherrscht hat.
Auf nationaler Ebene ist sie in zwei Flügel gespalten. Einer ist mit dem
Präsidenten Hamid Karsai verbündet, stellt sogar einige seiner engsten
Berater, der andere kämpft als zweitgrößte aufständische Bewegung gegen
ihn. Viele Afghanen argwöhnen jedoch, dass beide Flügel immer noch am
gleichen Strang ziehen. „Die wollen wieder die Macht in Kabul übernehmen“,
sagt der Vorsitzende einer prodemokratischen Partei in Kabul, der lieber
ungenannt bleiben will.
Zu einer Schlüsselfigur in Andar wurde Faisanullah Faisan, ein ehemaliger
Gouverneur von Ghasni und IP-Kommandeur, der selbst von hier stammt. „Ich
selbst habe Rahmatullah ermutigt, mit den Taliban zu brechen“, behauptet
er. Und er sagt, dass er die Unterstützung von Stammesminister Assadullah
Chaled gewonnen habe, der eng mit den Amerikanern kooperiert.
## Die Anti-Taliban-Welle reiten
Faisan stellt sich als Kommandeur der bewaffneten Gruppen in Andar dar, die
er nun „Nationale Aufstandsbewegung“ nennt. „Wir nennen uns ’national�…
weil wir Afghanen sind, und die Taliban von Pakistan unterstützt werden.“
Ähnliche Aufstände werden inzwischen aus mindestens sechs weiteren
Provinzen Afghanistans gemeldet, aus Laghman und Nangrahar im Osten, Paktia
und Logar im Südosten, Kandahar im Süden, Farjab im Norden. In Badghis und
Ghor im Westen und Nuristan im Osten ging die Bevölkerung, angeführt von
Studenten, gegen Schulschließungen der Taliban auf die Straße. In einigen
Fällen reiten frühere Mudschaheddin-Kommandeure auf der Anti-Taliban-Welle.
So wie in Andar. Hier ist die Stimmung inzwischen umgeschlagen. „Zuerst
waren sie wirklich populär“, sagt Muhammad Wasir, Automechaniker in
Tschardiwal, einer Kleinstadt in Andar, über Rahmatullahs Gruppe. „Ich
kenne ein paar von den Jungen als ehrliche Leute“, erzählt Wasir. „Als eine
gute Sache hat es begonnen, aber dann haben frühere Kommandeure und die
Regierung daraus Fraktionsmilizen gemacht.“ In der örtlichen Sprache
Paschto werden sie „Arbaki“ genannt.
## Ein Vorbeter arbeitet aus Furcht vor den Taliban nicht mehr in der
Moschee
Der Vorbeter einer Dorfmoschee in Andar, der seinen Namen nicht sagt, fühlt
sich inzwischen zwischen Hammer und Amboss. Neulich sollte er die Gebete
für ein Arbaki-Mitglied lesen, das Taliban getötet hatten.
„Ich habe ihnen gesagt, ich wäre krank“, erzählt er. „Denn ich würde d…
Befehl der Taliban verletzen, den Arbaki kein islamisches Begräbnis zu
geben. Und die Arbaki bedrohen uns als Taliban-Freunde, wenn wir uns
weigern.“ Inzwischen hat er seinen geistlichen Job aufgegeben.
Ein Weißbart aus dem Dorf Pajendi, das vom Arbaki kontrolliert wird – er
will ebenfalls seinen Namen nicht verraten – beklagt sogar, dass die Miliz
„die Ordnung der Taliban gestört“ habe. „Die hatten Mullahs und Richter,
Distriktchefs und andere Behörden, die sich der Probleme der Leute
annahmen. Die Arbaki sind nicht so gut organisiert wie sie.“
## „Es ist ein Kampf aus Rache geworden“, sagt ein Bauer
Die unklaren Grenzverläufe zwischen Taliban und Arbaki haben zu größerer
Unsicherheit und Misstrauen geführt. „In vielen Dörfern sind nachts Türen
eingetreten und Männer aufgegriffen worden, manchmal von den Taliban,
manchmal von den Arbaki. Keiner von denen hat Mitleid mit den Leuten. Es
ist ein Kampf aus Rache geworden“, berichtet Hadschi Wadud, ein Bauer aus
dem Dorf Nasar Khan. „Wir in Andar haben den schlimmsten Ramadan hinter
uns.“
„Wir sind zwischen zwei Monstern gefangen, die beide allein herrschen
wollen“, sagt auch Abdul Nabi, der Lehrer im Dorf Godali ist. „In den
letzten Wochen haben viele ihre Häuser in Dörfern verlassen, wo die Arbaki
sind – sie wollen auf keiner der beiden Seiten stehen.“
Die Aussicht auf Befreiung von den Taliban hat sich zerschlagen. Die
instrumentalisierten oder per Fernsteuerung aus Kabul organisierten
„Spontanaufstände“ stellen alles andere als eine gesamtnationale Bewegung
dar. Sie könnten sogar ein Vorbote der neuen, bewaffneten
Unübersichtlichkeit mit einer Vielzahl autonomer bewaffneter Gruppen sein,
die sich nach dem Abzug der westlichen Kampftruppen gegen Ende 2014 in
Afghanistan einstellen könnte.
3 Sep 2012
## AUTOREN
T. Ruttig
E. Habib
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