| # taz.de -- Theater über Sicherungsverwahrung: Als Nachtwächter recherchiert | |
| > Die Praxis des Maßregelvollzugs unterzieht das Freie Werkstatt Theater in | |
| > Köln einer kritischen Kontrolle. Das ist informativ und spannend. | |
| Bild: Szenenfoto „Wegschließen...“: Petra Kalkutschke und Katharina Waldau… | |
| Wenn man die Zeitung liest, könnte man denken, in Deutschland werden | |
| permanent Kinder vergewaltigt. Tatsächlich ist die Zahl rückläufig. Nur die | |
| Zahl der für immer „Weggesperrten“ explodiert. Ein Projekt der Freien | |
| Werkstatt Theater Köln hat sich damit beschäftigt. | |
| Seit 1995 ist die Verbrechensrate gesunken, aber man könnte mit Menschen in | |
| Sicherungsverwahrung und Maßregelvollzug eine Kleinstadt füllen. Ihre Kurve | |
| steigt steil nach oben – entlassen werden sie so gut wie nie. | |
| Was ist also zwischen 1995 und 2012 passiert? Es war vor allem die | |
| Berichterstattung der Bild-Zeitung und darin exklusiv veröffentlichten | |
| Sprüchen wie die von Exkanzler Schröder: „Wegschließen, und zwar für | |
| immer“, bezogen auf Sexualtäter an Kindern. | |
| Der markige Satz ist der Titel des dokumentarischen Theaterprojekts des | |
| Freien Werkstatt Theater Köln. Regisseur Nico Dietrich und Dramaturgin | |
| Inken Kautter sprachen während einer monatelangen Recherche mit | |
| Inhaftierten, Vollzugsbeamten und Forensikern. | |
| ## 10.000 in Sicherungsverwahrung | |
| Vier Schauspieler nutzen in der Aufführung diese Interviews, während sie | |
| durch das Gebäude des freien Theaters führen. Sie tragen graue | |
| Business-Anzüge, die je nach Rolle ein wenig verändert werden: Schlips an, | |
| Hose aus, mal lässig hochgekrempelt, mal streng geschlossen. Auf der großen | |
| Bühne wird zunächst die Statistik mit Tennisbällen und Tierkäfigen | |
| illustriert: 10.000 Menschen in Deutschland leben in Sicherungsverwahrung | |
| und Maßregelvollzug, davon 3.000 in Entzugskliniken, 6.400 in forensischen | |
| Kliniken und 500 in Sicherungsverwahrung, sprich: auf unbestimmte Zeit | |
| weiter im Gefängnis. | |
| Dann teilen sich die Zuschauer in Gruppen auf und steigen Treppen hinauf | |
| oder abwärts in Theater-Katakomben. Sie begegnen dort dem „Leiter Dezernat | |
| Bau für Maßregelvollzug in NRW“, dargestellt von einer knurrigen Petra | |
| Kalkutschke, die grinsend mit „Willkommen im Bau“ empfängt und erläutert, | |
| wie sehr Zahlen (und Kosten) der Verwahrten explodieren, immerzu neue | |
| Einrichtungen gebaut werden, kaum jemand entlassen wird, und scherzt: „Wenn | |
| das so weitergeht, ist bald ganz NRW sicherungsverwahrt.“ | |
| Die Schauspieler haben das Interviewmaterial nie im Video gesehen. Sie sind | |
| lediglich Zitatvehikel und entwickeln mit aberwitzigen Nebenhandlungen eine | |
| ironische Distanz zu ihren Figuren, die jeder Pseudobetroffenheit vorbaut. | |
| ## Minijob als Nachtwächter | |
| Im dritten Stock verwandelt sich Oleg Zhukow in einen „Nachtwächter im | |
| offenen Vollzug“ und erklärt uns das Regelwerk, nach dem Gefangene kurz vor | |
| ihrer Entlassung überprüft werden: jeden Abend Alkoholtest, bei der | |
| geringsten Verspätung Alarm. Der Job wird übrigens meist von | |
| Hartz-IV-Empfängern ausgeübt, pro Nacht gibt es 60 Euro, drei Schichten im | |
| Monat sind erlaubt – es machen ihn auch viele arbeitslose Schauspieler. | |
| Regisseur Nico Dietrich selbst hat sechs Monate zu Recherchezwecken als | |
| Nachtwächter gearbeitet. | |
| Man trifft an diesem Abend Richter, Psychologen, Krankenpfleger (alle von | |
| Schauspielern verkörpert) in winzigen Ecken des Theaters, die Fakten | |
| prasseln uns um die Ohren und machen fassungslos: „Dreimal mehr Menschen | |
| werden in Deutschland durch Verkehrsunfälle als durch Verbrechen getötet – | |
| aber niemand will die Menschheit vor Autofahrern schützen“, sagt ein | |
| Strafrechtler. „Das deutsche Bedürfnis, Menschen präventiv einzusperren, | |
| ist zu verurteilen“, ergänzt ein Professor für Strafrecht. | |
| Oder man sieht jenen Marburger Anwalt lässig einen Drink schlürfen, der – | |
| dargestellt von Rudolf Schlager in Shorts und Sonnenbrille – das große | |
| Urteil am Europäischen Gerichtshof in Straßburg angeschoben hat, dass die | |
| Praxis in Deutschland menschenrechtswidrig sei und ab Mai 2013 geändert | |
| werden muss. | |
| ## Faktengefüllt und atemberaubend spannend | |
| Doch am beeindruckendsten ist die Begegnung mit einem Mann, der zwischen | |
| Umzugskartons im Unterhemd sitzt und erzählt, dass er wegen des vierten | |
| Herzinfarkts nach dreißig Jahren Sicherungsverwahrung nun doch draußen ist. | |
| Dass er keine Strecke zweimal gehen kann, weil ihm nach jahrzehntelanger | |
| Fremdbestimmung der Orientierungssinn verloren ging. | |
| Stets werden die Zitatgeber genannt, vor unseren Augen nehmen die | |
| Schauspieler die kontroversen Positionen im deutschen Strafrechtssystem ein | |
| und führen vor, dass etwas grundlegend falsch läuft. Der Abend ist | |
| faktengefüllt und zuweilen trocken, durch seine ironische Unterwanderung | |
| aber witzig und – atemberaubend spannend. Er eröffnet eine Welt, die man | |
| noch nie betreten hat. | |
| Wie es um eine Gesellschaft bestellt ist, die ihre Gesetzgebung durch | |
| populistische Medien beeinflussen lässt und ein hochgepeitschtes | |
| Angstgefühl zur Basis für Menschenrechtsverletzungen macht, willkürlich | |
| Schicksale abschneidet, darüber muss man lange nachdenken. | |
| 4 Sep 2012 | |
| ## AUTOREN | |
| Dorothea Marcus | |
| ## TAGS | |
| Sicherheitsverwahrung | |
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