Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Kriminalitätsstatistiken: Nutzlose und irreführende Zahlen
> Die Erhebungen über die Entwicklung von Straftaten in Deutschland sind
> nur Schein. Denn tatsächlich sammelt jede Dienststelle die Daten nach
> anderen Kriterien.
Bild: Autodiebstähle sind zwischen 1999 und 2009 um 57 Prozent zurückgegangen…
Regelmäßig im Frühjahr lädt das Bundesinnenministerium zu einer
Pressekonferenz, um die aktuelle Polizeiliche Kriminalitätsstatistik (PKS)
vorzustellen. Je nach politischer Couleur und Eigeninteressen werden dabei
die vom Bundeskriminalamt (BKA) zusammengestellten Zahlen polizeilicher
Tätigkeitsdaten ausgeschlachtet.
Mitte Mai war es wieder so weit, und prompt machten Schlagzeilen wie
„Deutschland ist ein Paradies für Einbrecher“, „Rekord an politisch
motivierten Straftaten“ oder „Mehr Fälle von Kindesmissbrauch als im
Vorjahr“ die Runde. Für Politiker immer der Moment zu öffentlichen
Warnrufen und neuen Gesetzesinitiativen im Sicherheitsbereich.
Für Polizeigewerkschaften stets Anlass, wieder einmal gegen Sparmaßnahmen
der Regierung zu wettern. Doch was sagen die PKS-Zahlen wirklich aus? Für
den Kriminologieprofessor Wolfgang Heinz von der Universität Konstanz nicht
allzu viel. „Das Einzige, was wir sicher wissen, ist, dass wir nichts
wissen“, erklärte Heinz kürzlich auf einer Tagung der
Friedrich-Ebert-Stiftung in Berlin vor Politikern und Kriminalisten.
„Medienkriminalität“ nennt er das, was auf der Grundlage polizeilicher
Statistiken in regelmäßigem Turnus veröffentlicht wird. In der Bevölkerung
werde die Kriminalitätsentwicklung, insbesondere deren schwere Formen,
hierdurch dramatisch überschätzt.
## Deutsche Kriminologie
Seit 1981 ist Wolfgang Heinz in Konstanz als Professor für Kriminologie und
Strafrecht tätig. Wörtlich übersetzt bedeutet Kriminologie die Lehre vom
Verbrechen. Anders als in angloamerikanischen und skandinavischen Ländern,
wo sie sich überwiegend sozialwissenschaftlich orientiert, ist die
universitäre Kriminologie in Deutschland weitgehend den
rechtswissenschaftlichen Fakultäten zugeordnet.
Für den „Blindflug“ in der Kriminalpolitik haben Heinz und weitere
renommierte Kollegen gleich mehrere Faktoren ausgemacht. So werden bei der
Kriminalitätsbekämpfung und Strafverfolgung gleich mehrere Statistiken mit
unterschiedlichen Kriterien und an verschiedenen Stellen geführt.
Während das BKA die bundesweiten polizeilichen Ermittlungen in der PKS
zusammenführt, werden die Entscheidungen der Staatsanwaltschaften über
deren weiteren Verlauf vom Statistischen Bundesamt in einer
Staatsanwaltschaftsstatistik erfasst.
Was davon schließlich an die Gerichte weitergegeben wird, erscheint in
einer Justizgeschäftsstatistik der Strafgerichte. Die wiederum sagt nichts
über die Prozessergebnisse aus, dafür gibt es extra eine
Strafverfolgungsstatistik. Und natürlich gibt es auch für den späteren
Strafvollzug drei eigene Statistiken.
## Nur bedingt kompatibel
Sie alle werden ebenfalls vom Statistischen Bundesamt geführt; aber
letztlich kompatibel sind all diese Statistiken – wenn überhaupt – nur
bedingt. Dies hat Gründe: So fehlen in der PKS zum Beispiel die
Verkehrsdelikte, eine bundesweite Strafverfolgungsstatistik gibt es erst
seit 2007.
In gleich vier der neuen Bundesländer wird keine Maßregelvollzugsstatistik
geführt und in Schleswig-Holstein wurde zwischen 1998 und 2003 kurzerhand
die Staatsanwaltschaftsstatistik ausgesetzt, da es hierfür keine
Rechtsgrundlage, sondern lediglich eine Verwaltungsvorschrift gibt.
Soweit bei dem Wirrwarr eine langfristige Aussage zur
Kriminalitätsentwicklung in Deutschland überhaupt möglich ist, so sieht das
Ergebnis nach Heinz Untersuchungen dann folgendermaßen aus:
Zunächst wird der mutmaßliche Anstieg der registrierten Kriminalität (laut
aktueller PKS im Jahre 2011 um 1 Prozent auf 5,99 Millionen Straftaten)
durch die folgenden staatsanwaltschaftlichen Verfahren wieder
entkriminalisiert – zum Beispiel durch Verfahrenseinstellung oder
Herabstufung zu einer Ordnungswidrigkeit.
## Alarmismus der Sicherheitspolitiker
Welche Tat- und Tätergruppen dies jedoch betrifft oder was eventuell auf
einer Änderung der Beurteilungsmaßstäbe beruht, lässt sich dabei nicht
feststellen. So wurden etwa 2010 von rund 3,3 Millionen polizeilich
aufgeklärten Verbrechenstatbeständen nur in 60.200 Fällen die Täter auch zu
Gefängnisstrafen verurteilt, während sie in den übrigen mit anderen
Sanktionen belegt wurden. Worauf diese Diskrepanz beruht, vermag Professor
Heinz nicht zu sagen.
Während durch den alljährlichen Alarmismus der Sicherheitspolitiker so die
öffentliche Kriminalitätswahrnehmung mit fast 30 Prozent deutlich über der
tatsächlichen Entwicklung liegt, geht sie in Wahrheit zurück. So ist etwa
der stets publikumswirksame Autodiebstahl („Kaum gestohlen, schon in
Polen“) in den Jahren 1999 bis 2009 um 57 Prozent zurückgegangen, während
er in der Einschätzung der Bevölkerung im gleichen Zeitraum 34 Prozent
gestiegen ist.
Noch deutlicher beim Wohnungseinbruch (Wahrnehmung plus 43 Prozent,
Rückgang minus 24 Prozent) oder bei Mord (Wahrnehmung plus 19 Prozent,
Rückgang minus 38 Prozent). In etwa ähnlich verhält es sich bei
Betrugsstraftaten, „Handtaschenraub oder Jugendstraftaten. Nirgendwo
allerdings liegen Wahrnehmung und Wahrheit soweit auseinander wie bei den
immer wieder erneut medienträchtigen Sexualmorden.
Während hier die Wahrnehmung um 56 Prozent gestiegen ist, liegt der
tatsächliche Rückgang ebenfalls bei 56 Prozent. Besonders eindrucksvoll ist
auch sein Forschungsergebnis zur Wirtschaftskriminalität, die im Jahr 2010
einen registrierten Gesamtschaden von 8,4 Milliarden Euro verursachte.
## „Arbeitsnachweis ohne inhaltliche Bewertung“
Für 55 Prozent dieser gewaltigen Summe allerdings sind lediglich 3 Prozent
der Täter verantwortlich. Es ist also nicht der Ladendieb, der hier die
großen Schäden verursacht. Die weitgehende Nutzlosigkeit und Irreführung
der PKS hat unterdessen offenbar auch der Bund Deutscher Kriminalbeamter
(BDK) erkannt.
„Für uns Kriminalisten ist sie lediglich eine Strichliste, ein
Arbeitsnachweis ohne inhaltliche Bewertung“, sagt etwa André Schulz, der
BDK-Bundesvorsitzende, und bezeichnet sie als „jährliches Schaulaufen“ der
Innenminister. Damit nicht genug, liegt das deutsche kriminalistische
Erfassungssystem laut Heinz im Vergleich mit anderen EU-Staaten ohnehin
weit hinter dem Stand zurück, den einige benachbarte Staaten aufweisen.
Unterstützung erhält er bei dieser Einschätzung von Professor Jörg-Martin
Jehle von der Universität Göttingen. Zudem, fügt er an, seien die
derzeitigen europäischen Statistiken insgesamt nicht vergleichbar, da
Straftaten in den Rechtssystemen der verschiedenen Länder unterschiedlich
gewertet würden.
Gegenwärtig arbeitet Jehle in einer europäischen Kommission mit, die diesem
Mangel auf längere Sicht abhelfen soll. Ein Mammutunternehmen. Beide
fordern, ebenso wie andere Kollegen, denn auch Optimierungen für das
deutsche System. Notwendig seien neben weiteren Erfassungsdateien etwa eine
bundesgesetzliche Grundlage für die gesamten Strafrechtsstatistiken, damit
diese in den Länderhaushalten abgesichert werden und flächendeckend
verfügbar werden.
## Periodischer Sicherheitsbericht
Ebenso müsse eine fortlaufende Berichterstattung zur sogenannten inneren
Sicherheit durch ein unabhängiges Wissenschaftlergremium geschaffen werden,
deren Ergebnisse in einem periodischen Sicherheitsbericht festgehalten
werden müssten. „80 Prozent aller notwendigen Daten sind bereits in
diversen System vorhanden“, meint Professor Heinz.
Neben allen mit einer solchen Forderung zusammenhängenden und noch zu
klärenden Datenschutzproblemen wäre dies ein Albtraum für die
Sicherheits-politiker in Bund und Ländern: Dem „jährlichen Schaulaufen“
drohte ein Ende.
1 Jun 2012
## AUTOREN
Otto Diederichs
## TAGS
Kriminalität
## ARTIKEL ZUM THEMA
Statistik zur Kriminalität in Deutschland: „Eine zunehmende Verrohung“
Laut der Kriminalitätsstatistik gibt es mehr Gewalt und mehr tatverdächtige
Zuwanderer. Innenminister de Maizière warnt vor Pauschalverdacht.
Theater über Sicherungsverwahrung: Als Nachtwächter recherchiert
Die Praxis des Maßregelvollzugs unterzieht das Freie Werkstatt Theater in
Köln einer kritischen Kontrolle. Das ist informativ und spannend.
Häusliche Gewalt gegen Frauen: Sicherheitsrisiko Ehemann
Es kommt in den besten Familien vor. Fast jede zweite Frau, die in
Deutschland getötet wird, kennt ihren Mörder: Es ist ihr Lebenspartner.
Polizei rechnet falsch: Ein Fehler im System
Die Polizeiliche Kriminalitätsstatistik hat über Jahre hinweg zu viele
ausländische Verdächtige ausgewiesen. Schuld war die EDV.
Sicherheit: Alles unter Kontrolle
Die Kriminalstatistik für 2011 zeigt eine Zunahme von Straftaten.
Innensenator Frank Henkel hält Berlin dennoch für eine sichere Stadt.
Früher klang das ganz anders.
Kriminalitätsstatistik 2009: Betrug im Internet nimmt zu
Im vergangenen Jahr wurde seltener geprügelt und geklaut. Dafür gab es mehr
Betrügereien im Internet und die politisch motivierte Gewalt nahm zu.
Kriminalitätsstatistik: Alle 26 Minuten eine rechte Straftat
Die Zahl der rechtsextremen Delikte hat sich seit 2001 verdoppelt.
Wichtigste Zielgruppe der Neonazis bleiben Jugendliche. Der Verein "Gesicht
zeigen!" fordert ein Gipfeltreffen.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.