# taz.de -- Kampagne für Genossenschaften: Wer sind die Spalter? | |
> Der Kurdenkonflikt in der Türkei ist gewalttätiger geworden. Ein | |
> Kommentator der Zeitung „BirGün“ zeichnet nach, dass die Regierung an der | |
> Abgrenzung mitschuldig ist. | |
Bild: Wer will sich trennen, die Kurden oder die Türken? | |
ISTANBUL BirGün | Am Samstagabend haben der Nachrichtensender NTV, die | |
übrigen Nachrichtensendungen und die Nachrichtenportale im Internet ebenso | |
wie später die Sonntagsausgaben der Tageszeitungen gegen das gleichsam | |
berühmte wie ominöse Prinzip von der „Unteilbarkeit des Vaterlandes“ | |
verstoßen. Sie haben Separatismus betrieben. | |
Wir wurden zu Zeugen dessen, dass die türkischen Medien [1][Diyarbakır] und | |
die Kurden als Teil eines anderen Landes betrachten. Zugleich bedrohten die | |
Sicherheitskräfte der Türkischen Republik gewählte Parlamentsabgeordnete | |
und Bürgermeister, schlugen sie mit Fäusten, schleiften sie über den Boden | |
und verletzten sie mit Tränengas und zeigten damit, dass sie diese Personen | |
nicht als Volksvertreter der Türkei anerkennen. | |
Während die Auseinandersetzungen in Diyarbakır noch andauerten, lautete die | |
Hauptnachricht des Tages: Die frohe Kunde des Ministerpräsidenten, die | |
Überquerung der Bosporusbrücke für die Dauer von Reparaturarbeiten | |
kostenlos zu machen – eine Botschaft übrigens, die mit dem Ton verkündet | |
wurde: „Was regt ihr euch über die Staus auf; ich habe dafür gesorgt, dass | |
ihr für lau über die Brücke kommt, also haltet die Klappe!“ | |
## Völlig voneinander getrennt | |
Aber glauben Sie nicht, dass es hierbei nur darum ginge, dass die Medien | |
die Wirklichzeit verzerren, die Prioritäten verschieben und so das | |
Informationsrecht der Bevölkerung aushöhlen. Vielmehr wurde hier deutlich, | |
dass auf demselben Territorium zwei völlig voneinander getrennte | |
Gesellschaften leben. | |
Während sich am Samstag in Diyarbakır Menschen gegen die Vergewaltigung | |
demokratischer Rechte zur Wehr setzten, wussten in Istanbul 20.000 Besucher | |
eines [2][Konzerts] den Veranstaltern, die sich davon hatten einschüchtern | |
lassen, dass sich eine handvoll Leute am Eingang mit dem Worten „trinkt | |
keinen Alkohol, sonst nehmen wir den Laden auseinander“ aufgespielt hatten, | |
nichts anderes zu entgegnen als: „Na gut, aber dürfen wir dann wenigstens | |
Kaffee und Limonade trinken?“ | |
Auf der einen Seite ein Volk, dessen Herrscher glauben, dass sie es mit | |
zwei, drei Monaten kostenloser Brückenüberquerung zu beschwichtigen sei, | |
und das auf ein willkürliches Alkoholverbot damit reagiert, indem es eben | |
Limo trinkt. Und auf der anderen Seite ein Volk, das sagt: „Selbst wenn ihr | |
mir den Kopf einschlagt, werde ich nicht aufhören, meine Freiheit zu | |
verlangen!“ | |
An dieser Stelle ist es nützlich, die Formulierung „auf demselben | |
Territorium lebend“ genauer zu betrachten. Von Ankara aus ist die syrische | |
Stadt Hama um 45 Kilometer näher als Diyarbakır. Auch von Istanbul aus ist | |
man schneller in Hama als in Diyarbakır. Zwischen Hama und Diyarbakır sind | |
es allerdings nur 567 Kilometer. Was ich damit sagen will: Hama und | |
Diyarbakır sind sich einander sehr viel näher als sie es sich zu Ankara | |
nahe sind. | |
## Geschichte für lau | |
Dass die türkischen Medien am Wochenende den [3][Ereignissen in Hama] eine | |
größere Aufmerksamkeiten zuteil werden ließen als den Ereignissen in | |
Diyarbakır, dürfte weniger daran liegen, dass Hama rund 50 Kilometer näher | |
ist, als vielmehr daran, dass man sich von Diyarbakır und Hama gleich weit | |
weg entfernt sieht. Wenn dem aber so ist, war journalistisch richtig, | |
zuerst über das Thema mit dem höheren Nachrichtenwert – die Toten in Hama �… | |
zu berichten. Ebenso war es vielleicht nur ein Ausdruck davon, dass die | |
Medien die Interessen ihrer Leser und Zuschauer genau kennen und darum die | |
Geschichte von der Brücke für lau als Hauptnachricht brachten. | |
So offenbart sich, worin die tatsächliche Trennung im Land besteht und wer | |
die wahren Separatisten sind. | |
Gekrönt wurde dieser Befund, dass sich in den Reihen der großen [4][CHP], | |
die für sich beansprucht, eine Partei des ganzen Landes zu sein, ein | |
einziger Politiker fand, der zu den Ereignissen in Diyarbakır das Wort | |
ergriff: Der aus Diyarbakır stammende Istanbuler Abgeordnete Sezgin | |
Tanrıkulu, der in einer Erklärung das Vorgehen des Sicherheitskräfte | |
kritisierte. Mit der besonderen, nostalgischen Aufmerksamkeit, die häufig | |
Menschen für ein Land empfinden, aus dem einst ihre Vorfahren eingewandert | |
sind, brachte er zum Ausdruck, wie sehr die Ereignisse in Diyarbakır ihn | |
schmerzen – so wie ein Abgeordneter aus Bursa, dessen Vorfahren einst aus | |
Bulgarien stammen, über Vorfälle in Bulgarien sprechen würde. | |
Das heißt, man muss die Grundsatzfrage mit verändertem Subjekt von Neuem | |
stellen: Wer will sich trennen, die Kurden oder die Türken? Will sich der | |
Südosten abspalten oder gibt es welche, die den Südosten abspalten wollen? | |
Die Antwort erschließt sich, wenn man bedenkt, womit sich die mit denselben | |
Rechten ausgestatteten Kollegen jener Abgeordneten, die am Samstag von | |
Wasserwerfen zu Boden gerissen wurden, zuletzt so intensiv beschäftigt | |
haben: die mit nächtlichen Zusatzanträgen beschlossenen Gesetze, die es | |
ermöglichen, dass die Mörder von [5][Bahçelievler] auf [6][freien Fuß] | |
kommen werden. | |
Übersetzung: Deniz Yücel | |
10 Sep 2012 | |
## LINKS | |
[1] /!97351/ | |
[2] http://www.welt.de/politik/ausland/article108931602/Der-heimliche-Kampf-der… | |
[3] /Konflikt-in-Syrien/!97290/ | |
[4] http://de.wikipedia.org/wiki/Cumhuriyet_Halk_Partisi | |
[5] http://www.timdrayton.com/sy.html#7 | |
[6] http://www.turkishpress.de/de/news/10072012/tuerkei-reform-laesst-moerder-v… | |
## AUTOREN | |
Selçuk Candansayar | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Syrien | |
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