| # taz.de -- Unterricht nach Ferien: „Die Schule muss das kompensieren“ | |
| > In den langen Sommerferien wird viel Stoff vergessen. Besonders | |
| > benachteiligte Kinder verlieren den Anschluss, sagt Schulforscher Jörg | |
| > Siewert. | |
| Bild: Wie ging das noch mal? Ohne Wiederholung in den großen Ferien bleibt vom… | |
| taz: Herr Siewert, viele Lehrer klagen, dass sie jetzt nach den | |
| Sommerferien wieder bei null anfangen müssen. Machen Ferien dumm? | |
| Jörg Siewert: Was man vor den Ferien gemacht hat, kann man im neuen | |
| Schuljahr nicht als bekannt voraussetzen. Gerade mit Mathematik kommen die | |
| Schüler in den Ferien ja kaum in Berührung. Ich habe in meiner Zeit als | |
| Mathematiklehrer darum immer erst mit neuem Stoff angefangen, ehe ich den | |
| alten wiederholt habe. Dass Ferien generell dumm machen, kann man nicht | |
| sagen. | |
| Sondern? | |
| Die einen fallen in der langen Phase der Nichtbeschulung in ihrer | |
| Kompetenzentwicklung zurück, andere stagnieren. Einige lernen sogar noch | |
| etwas dazu. In den USA gibt es eine breite Forschung genau zu dieser Frage, | |
| auch weil immer wieder über eine Verkürzung der drei Monate langen | |
| Sommerferien debattiert wird: Was passiert in den Ferien? Das Ergebnis: In | |
| den USA ist es schichtspezifisch, wie viel während der schulfreien Monate | |
| vergessen wird, es gibt einen schichtspezifischen Ferieneffekt. | |
| Das heißt: Die Akademikerkinder haben Mathe nach den Ferien noch halbwegs | |
| drauf – die Arbeiterkinder fallen zurück? | |
| Das zeigen die Ergebnisse in den USA. Und der Befund ist ja auch plausibel: | |
| Die Akademikerfamilien haben bessere Möglichkeiten, ihre Kinder während der | |
| Sommermonate zu unterstützen. Es gibt in den USA etwa die Tradition der | |
| Feriencamps, sozusagen Ferienlager mit Nachhilfeunterricht. Das kann sich | |
| nicht jeder leisten. Uns hat interessiert, ob auch in Deutschland während | |
| der Sommerferien die Kompetenzschere aufgeht. | |
| Was in den USA gilt, gilt wohl auch in Deutschland. | |
| Überraschenderweise haben wir in unserer Studie festgestellt, dass es hier | |
| bei uns anders ist. In den Sommerferien stagniert die durchschnittliche | |
| Mathematikkompetenz beider Schülergruppen: Im Durchschnitt dümpeln die | |
| Schüler, deren Eltern maximal den Hauptschulabschluss haben, genauso vor | |
| sich hin wie die Schüler, deren Eltern studiert haben. Aber sobald die | |
| Schule wieder losgeht, eilen die Akademikerkinder den bildungsfernen | |
| Schülern davon. Die bildungsfernen Kinder haben während der Schulzeit nur | |
| sehr geringe Kompetenzzuwächse, die Schüler aus bildungsnahen Elternhäusern | |
| machen dagegen signifikant größere Schritte nach vorn. | |
| Das klingt brisant. Die Schule verschärft die Kluft zwischen | |
| Bildungsbürgertum und Unterschicht noch, anstatt sie zu verringern. | |
| Offenbar. Wobei die wirklich entscheidende Frage übrigens allein der | |
| Bildungsabschluss der Eltern ist. Das Einkommen spielt keine Rolle und auch | |
| zwischen Deutschstämmigen und Migranten beobachten wir während der | |
| Schulzeit kein Auseinanderdriften. | |
| Längere Ferien würden unser Bildungssystem also gerechter machen? | |
| Nein, das wäre ja eine völlig absurde Schlussfolgerung. Denn dann würde gar | |
| nichts mehr gelernt. Es gibt Studien, die zeigen, dass es gerade in | |
| Mathematik den Input der Schule braucht, damit es Kompetenzzuwächse gibt. | |
| Prozentrechnen und das Lösen von Gleichungssystemen lernt man nicht so | |
| nebenbei. | |
| Aufgabe der Schule sollte es doch sein, allen gleich gute Chancen zu geben, | |
| unabhängig von ihrer Herkunft. Ein besonders gutes Zeugnis kann man ihr | |
| dafür nicht ausstellen. | |
| Ja. | |
| Warum macht die Schule Kompetenzunterschiede größer und nicht kleiner? | |
| Gute Frage. Wir haben das in unserer Studie nicht explizit untersucht, weil | |
| wir ja aufgrund der amerikanischen Ergebnisse damit gerechnet hatten, dass | |
| die Schere sich in der Ferienzeit öffnet. Ich würde Folgendes vermuten: | |
| Sobald die Schule losgeht, wird gewissermaßen die Unterstützung der Eltern | |
| aktiviert, die in den Ferien brachlag. Das ist ja auch nicht verkehrt: Ich | |
| kann und will niemandem verbieten, sein Kind zu fördern. Nur dass das bei | |
| den einen zum Erfolg führt und bei den anderen nicht. So ganz aus der Luft | |
| gegriffen ist das nicht, wenn ich an mich und meine Familie denke. | |
| Inwiefern? | |
| Meine Frau ist Grundschullehrerin, ich bin Wissenschaftler. In den Ferien | |
| lassen wir unsere beiden Jungs mit der Schule in Ruhe. Die sollen nicht | |
| Mathe pauken, sondern die Wochen nutzen, um sich zu erholen und ganz andere | |
| Erfahrungen zu machen. Ich kann mir vorstellen, dass viele Akademikereltern | |
| so handeln. Deswegen gibt es in den Ferien auch keinen Kompetenzzuwachs bei | |
| den Schülern aus bildungsnahen Familien. | |
| Wenn die Schule wieder losgeht und ihre Söhne über den Hausaufgaben | |
| verzweifeln … | |
| Dann setzen wir uns dazu und helfen, genau. Wir sind dann wieder dran an | |
| dem, was in der Schule passiert. | |
| Eltern, die nicht Mathematik studiert haben, schauen dagegen den ganzen Tag | |
| Privatfernsehen und interessieren sich kein Stück für das, was ihr | |
| Nachwuchs treibt? | |
| So ein Klischee möchte ich nicht bestätigen. Es gibt Untersuchungen, die | |
| zeigen: Es hat nichts mit dem Wollen zu tun, sondern mit dem Können. Es | |
| müsste Aufgabe der Schule sein, das zu kompensieren. | |
| Und wie? | |
| Sie müsste gezielt Schüler fördern, die keine ausreichende Unterstützung zu | |
| Hause haben. Ein viel versprechender Ansatz wäre daneben, die Eltern | |
| stärker ins Boot zu holen, über die Elternsprechtage hinaus. In Kanada gibt | |
| es das längst: Da werden Eltern regelmäßig in die Schule geladen und darin | |
| beraten, wie sie ihre Kinder unterstützen können. | |
| Unterricht für die Eltern also? | |
| So in der Art. Aber selbst wenn das gut funktioniert, wird es immer Eltern | |
| geben, die das nicht können. Deswegen ist es mindestens genauso wichtig, | |
| die Lehrer dafür zu sensibilisieren, dass sie Schüler benachteiligen, wenn | |
| sie einfach stillschweigend die Mitarbeit der Eltern voraussetzen oder gar | |
| initiieren. Unter Lehrern in Deutschland ist die Meinung sehr verbreitet, | |
| dass ein Teil der Bildungsarbeit von den Eltern geleistet werden müsse. | |
| Wenn das aber nicht gut geschieht, wird das von der Schule nicht | |
| kompensiert, sondern hingenommen. Ich habe meine Forschungsergebnisse zum | |
| Beispiel jüngst mit einer Gruppe Gymnasialreferendaren diskutiert und sie | |
| mit meinem vorsichtig formulierten Vorwurf konfrontiert … | |
| Und? | |
| Die fanden das ziemlich merkwürdig und meinten einhellig: Natürlich müssen | |
| auch die Eltern mithelfen, Schule geht nicht ohne Eltern. | |
| Haben Sie sie vom Gegenteil überzeugen können? | |
| Nein, ich befürchte nicht. In deren Augen war ich wohl der | |
| Bildungswissenschaftler mit seltsamen Vorstellungen. | |
| 20 Sep 2012 | |
| ## AUTOREN | |
| Bernd Kramer | |
| ## TAGS | |
| Sommerferien | |
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