| # taz.de -- Verfassungsrichter beim Juristentag: Wie Karlsruhe Europa retten wi… | |
| > Beim Juristentag beklagte der oberste Verfassungsrichter Andreas Voßkuhle | |
| > die „Vertrauenskrise“ der Politik. Und er verteidigte sich gegen | |
| > Habermas. | |
| Bild: Das Verfassungsgericht will kein Hindernis für die europäische Einigung… | |
| MÜNCHEN taz | „Wer schnell fahren will, braucht eine gute Bremse.“ Mit | |
| diesem Bild beschrieb Andreas Voßkuhle, der Präsident des | |
| Bundesverfassungsgerichts, die Karlsruher Rolle bei der europäischen | |
| Integration. „Nur wenn die Bürger das Vertrauen haben, dass bestimmte | |
| Grenzen nicht überschritten werden, sind sie bereit, weitere | |
| Integrationsschritte hinzunehmen.“ | |
| Insofern erleichtere das Bundesverfassungsgericht im Ergebnis die | |
| europäische Einigung und sei kein Hindernis – so sprach Voßkuhle bei einer | |
| Diskussion auf dem Deutschen Juristentag in München. | |
| Er verteidigte sich dabei gegen den Vorwurf des Philosophen Jürgen | |
| Habermas, das Gericht sei in seinem Urteil zum Rettungsfonds ESM nicht | |
| mutig genug gewesen. Karlsruhe habe nicht den enormen zusätzlichen | |
| „europäischen Legitimationsbedarf“ benannt, den eine gemeinsame | |
| Wirtschafts- und Haushaltspolitik mit sich bringe. | |
| Habermas äußerte den Verdacht, dass das Bundesverfassungsgericht eigentlich | |
| den Nationalstaat retten will, wenn es sage, dass es die Demokratie | |
| verteidige. Erforderlich sei aber mehr Demokratie auf europäischer Ebene – | |
| vor allem, wenn dort „transnationale Umverteilungsentscheidungen“ fallen. | |
| ## Kein grundsätzliches Demokratiedefizit | |
| Vassilios Skouris, der Präsident des Europäischen Gerichtshofs (EuGH), | |
| warnte demgegenüber davor, „Pauschalurteile“ über ein angebliches | |
| Demokratiedefizit abzugeben. Die Europäische Union sei durchaus gut | |
| legitimiert. Seit den 1950er Jahren habe es fünf große Änderungen der | |
| Verträge gegeben, zum Beispiel den Maastricht- oder den Lissabon-Vertrag. | |
| „Sie sind alle in den Mitgliedsstaaten ratifiziert worden, teilweise sogar | |
| mit Volksabstimmungen.“ | |
| Auch Luxemburgs Finanzminister Luc Frieden bestritt, dass es ein | |
| grundsätzliches Demokratiedefizit in Europa gebe. Allerdings sei die Union | |
| an einem „turning point“ angelangt, einem Wendepunkt. „In der Krise sieht | |
| jeder, dass wir in einem Boot sitzen.“ | |
| Frieden lobte den Europäischen Gerichtshof, der sich nicht als Bremse der | |
| Integration sehe, sondern die Verträge, wenn möglich, so auslege, dass es | |
| mit der Integration schneller gehen kann. Das Karlsruher ESM-Urteil hielt | |
| der Minister aber auch für unproblematisch und eher banal: „Die | |
| Haftungsgrenzen für die Mitgliedstaaten standen ja schon im ESM-Vertrag, | |
| das Bundesverfassungsgericht hat sie nur bestätigt.“ | |
| Andreas Voßkuhle stand bei der Diskussion im Mittelpunkt. Er sieht derzeit | |
| weniger eine Währungskrise als eine „Vertrauenskrise“. Als Gegenprogramm | |
| schlug der Karlsruher Richter drei Punkte vor. So müssten die Bürger wieder | |
| das Gefühl bekommen, dass die von der EU selbst gesetzten Regeln | |
| eingehalten werden. Zweitens müssten die Bürger merken, dass sie | |
| europäische Politik auch beeinflussen können. Und drittens müsse es auf | |
| europäischer Ebene mehr „Checks and Balances“ geben. | |
| ## Bundesstaat nicht ohne Volksabstimmung | |
| Bei allen Punkten sei das Bundesverfassungsgericht hilfreich. Es fordere | |
| rechtliche Regeln und sorge dafür, dass diese eingehalten werden. Bevor es | |
| zu einem europäischen Bundesstaat komme, müsse es eine | |
| „Verfassungsneuschöpfung“ geben, um die damit verbundene „Zäsur“ deut… | |
| zu machen. „Dann müssen auch die Bürger beteiligt werden“, sagte Voßkuhle | |
| und deutete damit die Notwendigkeit einer Volksabstimmung an. | |
| Vor allem aber sorge Karlsruhe dafür, dass sich auf europäischer Ebene | |
| „niemand zu sicher fühlen kann und übermütig wird“. Voßkuhle glaubt, da… | |
| es nur wegen der kritischen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts | |
| überhaupt Verträge über die Rettungsschirme gegeben habe. Sonst wären die | |
| Rettungs-Milliarden wohl ohne jede parlamentarische Beteiligung beschlossen | |
| worden. | |
| Der griechische Präsident des Europäischen Gerichtshofs spöttelte etwas | |
| darüber, dass sich ganz Europa auf das Bundesverfassungsgericht fixiert | |
| habe. Auch am Europäischen Gerichtshof würden durchaus grundsätzliche | |
| Rechtsfragen gestellt, wandte Skouris ein. „Aber wir sind nicht | |
| unglücklich, wenn wir weniger im Rampenlicht – und unter Erwartungsdruck – | |
| stehen als die Karlsruher Kollegen.“ | |
| 21 Sep 2012 | |
| ## AUTOREN | |
| Christian Rath | |
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