# taz.de -- taz-Serie (Über)Leben in Berlin (Teil 13): "Ich bin immer hier im … | |
> Dogan Karaoglan steht 16 Stunden täglich in seinem Spätkauf in der | |
> Neuköllner Weserstraße. Vor einigen Jahren war sein Laden noch der | |
> einzige in der Straße, heute ist die Konkurrenz hart. Er mag den | |
> Kundenkontakt, aber Betrunkene strengen ihn an. Seine Selbsteinschätzung: | |
> obere Unterschicht. | |
Bild: Der Späti-Verkäufer am Werk. | |
Wie heißen Sie? | |
Ich heiße Dogan, mein Freund, Dogan Karaoglan. | |
Seit wann leben Sie in Berlin? | |
Ich lebe seit 1992 in Berlin. Damals bin ich von Stuttgart hergezogen. Nach | |
Deutschland bin ich 1979 gekommen, eigentlich komme ich aus Malatya in der | |
Türkei. Das ist in Anatolien. | |
Warum sind Sie hergekommen? | |
Ich wollte in Berlin auf dem Bau arbeiten. Ich habe mir Firmen aus den | |
Gelben Seiten herausgesucht, Termine gemacht, und dann bin ich hergekommen. | |
Würden Sie gern woanders wohnen? | |
Nein, Berlin ist gut. Berlin ist multikulti. Hier kann man alles sehen und | |
alles machen. In Stuttgart gibt es nur Schickimicki. Reiche fahren mit | |
teuren Wagen herum, auf der Straße ist nichts los. Da ist alles tot. In die | |
Türkei will ich eigentlich schon zurück, aber das ist schwer. Da bin ich | |
inzwischen auch Ausländer. | |
Wo arbeiten Sie? | |
Ich arbeite in meinem Spätkauf in der Weserstraße in Neukölln, Galerie | |
Späti International. Ich verkaufe Bier, Wein, Tabak und Süßigkeiten, | |
Internet gibt es auch. Außerdem ist der Späti eine Galerie, ich mache hier | |
Ausstellungen. Im hinteren Bereich habe ich zwei Räume, die ich für | |
Künstler freigebe. Dafür müssen sie mir helfen, die Bierkisten ins Lager zu | |
tragen. | |
Welche Ausbildung haben Sie? | |
Ich bin zur Schule gegangen, danach habe ich Fußbodenleger gelernt. Die | |
letzten 20 Jahre habe ich dann auf dem Bau gearbeitet. | |
Wie kamen Sie zu Ihrem jetzigen Job? | |
Über einen Freund, dem der Späti vorher gehört hat. Eine Woche habe ich mir | |
das Geschäft hier angeschaut. Mir hat es gefallen, mich mit der Kundschaft | |
und den Studenten zu unterhalten. Ich habe dann gleich den Laden | |
übernommen. 20.000 Euro habe ich dafür bezahlt. | |
Würden Sie gern in einer anderen Form arbeiten? | |
Sobald die Kinder mit dem Studium fertig sind, werde ich hier aufhören und | |
wieder als Fußbodenleger arbeiten. | |
Warum? | |
Die Arbeit hier ist nicht gut für mich. Entweder bin ich allein im Laden | |
und mir ist langweilig, oder es sind Kunden da, die trinken. Ich bekomme | |
dann auch Lust auf Alkohol und Tabak und trinke mit. Lange geht das nicht | |
gut. Ich weiß nicht, wie Kneipenbesitzer das machen. | |
Wie sieht Ihr Arbeitsalltag aus? | |
Um zehn Uhr mache ich auf. Ich schaue nach, was fehlt, dann geht meine | |
Exfrau einkaufen. Danach fülle ich die Regale auf und sortiere die Waren | |
bis zwölf. Dann wird verkauft. Unter der Woche bis 24 oder zwei Uhr. Am | |
Wochenende länger, etwa bis drei oder vier Uhr früh. | |
Welche Tätigkeiten verrichten Sie? | |
Waren einkaufen, sortieren und verkaufen. Ich putze auch. Am Ende des | |
Monats mache ich Buchhaltung mit einem Steuerberater. | |
Ist Ihre Arbeit körperlich oder geistig anstrengend? | |
Das Tragen der Getränkekisten ist anstrengend, das geht aufs Kreuz. Ist | |
aber nicht so anstrengend wie mein alter Job als Fußbodenleger. Das war | |
Knochenarbeit. Mir wurde zweimal der Meniskus am Knie operiert. | |
Was mögen Sie an Ihrer Arbeit? | |
Ich kann gute Musik bei der Arbeit hören. Wenn Kunden kommen, die lachen | |
und gute Laune haben, macht das auch Spaß. Manche kommen einfach so in | |
meinen Späti und wollen quatschen, und manchmal wird sogar spontan getanzt. | |
Ich mag die Künstler und Studenten, die hier Ausstellungen machen. Und am | |
liebsten mag ich das Geldzählen am Abend. | |
Was mögen Sie nicht? | |
Die Besoffenen sind unerträglich, besonders am Wochenende. Manche lassen | |
hier nachts ihr Bier fallen. Das stinkt, man muss es sofort sauber machen. | |
Ein anderes Problem ist die Langweile, wenn nichts passiert und niemand in | |
den Laden kommt. Ich höre dann Musik, türkische zum Beispiel, oder ich lese | |
Zeitung. | |
Wo in der Hierarchie im Unternehmen stehen Sie? | |
Ich bin der Chef. Angestellte habe ich nicht. | |
Wer kontrolliert Sie? | |
Hier im Laden eigentlich niemand. Sonst kontrollieren mich natürlich das | |
Finanzamt und das Ordnungsamt. Die kommen ab und zu vorbei und schauen auf | |
die Preise. Neulich habe ich sechs Anzeigen von Nachbarn bekommen, weil es | |
Livemusik in meinem Späti gab. Das hat mich 3.700 Euro gekostet. Außerdem | |
will das Ordnungsamt nicht, dass ich am Sonntag aufmache. Ich darf dann | |
auch nicht alles verkaufen, Alkohol zum Beispiel nicht. Ich biete sonntags | |
also nur Wlan an und verkaufe Kaffee und Tee. | |
Haben Sie das Gefühl, dass Ihre Arbeit ausreichend wertgeschätzt wird? | |
Eigentlich schon. Es gibt aber einzelne Kunden, die glauben, sie wären | |
etwas Besseres. Vor allem wenn sie betrunken sind. Dann werfen sie mir das | |
Geld auf den Boden, als wäre ich ein Hund. Diese Kunden schmeiße ich sofort | |
raus, die können ihr Bier woanders kaufen. | |
Wie viele Stunden arbeiten Sie am Tag? | |
Ungefähr 16 Stunden, sieben Tage die Woche. | |
Wie viel verdienen Sie pro Stunde? | |
Das ist schwer zu sagen. Im Monat kommen vielleicht 2.500 Euro netto | |
zusammen, manchmal auch 3.000 Euro. Wenn ich das auf die Stunde ausrechne, | |
kann man das echt vergessen. Dann komme ich vielleicht auf 5 Euro pro | |
Stunde. | |
Fühlen Sie sich angemessen bezahlt? | |
Nein, das ist eigentlich zu wenig. Es ist eine anstrengende Arbeit. Ich | |
würde gern 8 Euro verdienen oder wenigstens 7. | |
Mit wem konkurrieren Sie? | |
Als ich den Laden 2008 aufgemacht habe, gab es in der Weserstraße zwei | |
Kneipen und keinen Späti. Die ersten beiden Kneipen waren das Ä und das | |
Freie Neukölln. Jetzt gibt es mehr als 30 Kneipen und fünf andere Spätis. | |
Gegenüber soll auch noch ein neuer aufmachen. Ich mache mir aber keine | |
Sorgen: Es laufen seit einiger Zeit so viele Leute durch die Weserstraße, | |
auch Spanier, Italiener und Franzosen. Außerdem unterscheide ich mich von | |
den anderen Spätis. Ich bin zwar etwa 20 Cent pro Bierflasche teurer, aber | |
dafür wird hier gute Musik gespielt, es gibt umsonst Wlan, und im | |
Hinterzimmer gibt es die Galerie. Die spielt eine große Rolle, darüber | |
kommen viele Leute. | |
Haben Sie darüber hinaus auch noch andere Marketingstrategien? | |
Als Spätibesitzer muss man wissen, wie man mit seinen Kunden umgeht. Bei | |
vielen Spätis ist doch alles tot. Es gibt Läden, da sitzen Typen an der | |
Kasse, die spielen mit ihrem Laptop und sagen nicht mal „Hallo“. Die wollen | |
nur abkassieren. So funktioniert das aber nicht. Man muss anbieten und die | |
Leute ansprechen. Wenn jemand reinkommt, sage ich sofort: „Heute ist Wein | |
im Angebot“. Wenn jemand überlegt, ob er was kauft, sage ich: „Kriegst du | |
20 Cent billiger!“ Manchmal werbe ich auch auf Facebook und schreibe, was | |
es am Wochenende günstiger gibt. Das bringt auch was. | |
Mit wem kooperieren Sie? | |
Ein paar Freunde helfen mir ab und zu. Die besorgen mir Musik, die ich hier | |
spielen kann, oder organisieren Ausstellungen mit. Sonst arbeite ich | |
allein. | |
Was tun Sie, um Ihre materielle Situation zu verbessern? | |
Ich habe keine Zeit, nebenbei noch in einem anderen Job zu arbeiten. Aber | |
ich lebe sparsam. | |
Wie viele Pausen und Überstunden machen Sie? | |
Richtige Pausen habe ich nicht. Ich bin den ganzen Tag im Späti. Wenn | |
nichts los ist und keine Kunden da sind, habe ich Pause. Und wenn ich nicht | |
arbeite, schlafe ich. | |
Wie viel Urlaub haben Sie? | |
Ungefähr zwei Wochen im Jahr. Dann fahre ich in die Türkei ans Mittelmeer | |
und liege am Strand. Ich habe ein kleines Grundstück dort und kümmere mich | |
dann darum. Dieses Jahr war ich aber nur sechs Tage im Urlaub. Ich schließe | |
den Laden dann. Ich möchte keine Vertretung, ich vertraue da niemandem. | |
Sind Arbeit und Freizeit klar getrennt? | |
Nein, ich bin den ganzen Tag im Laden. | |
Welche andere Aufgaben haben Sie außer der Arbeit? | |
Ich mache meinen Haushalt, und ich treffe meine Kinder ein- bis zweimal die | |
Woche. Für andere Aufgaben habe ich keine Zeit. | |
Was würden Sie gern machen, was Sie sich aus zeitlichen oder finanziellen | |
Gründen nicht leisten können? | |
Ich war mal in Holland und mal in Belgien, und durch Jugoslawien, | |
Tschechien und Ungarn bin ich mal durchgefahren. Jetzt würde ich aber gern | |
nach Äthiopien fahren, dort war ich noch nie. Das Land interessiert mich. | |
Ich würde da gern mit den Leuten zusammenleben und ihre Musik hören. Ich | |
spiele hier im Laden viel äthiopische Musik, die hat mir ein Mädchen von | |
dort gegeben. Ich habe auch eine Spendenbox für Äthiopien in meinem Späti | |
aufgestellt. | |
Wie viel Geld haben Sie im Monat zur Verfügung? | |
Ich bekomme etwa 2.500 Euro aus dem Späti, davon gehen allein 600 Euro für | |
Miete ab. Wenn ich meine festen Kosten abziehe, bleiben mir vielleicht | |
1.300 Euro zum Leben. | |
Wer lebt von diesem Geld? | |
Nur ich. Ich bin von meiner Frau getrennt. Meinen Kindern zahle ich Geld, | |
je nachdem, wie viel sie brauchen. Gerade machen die beiden den | |
Führerschein. Das ist ziemlich teuer. | |
Wofür geben Sie Ihr Geld aus? | |
Für Kleidung und den Friseur. Sonst habe ich habe keine Zeit, um Geld | |
auszugeben, ich bin immer hier im Späti. | |
Sparen Sie? | |
Wie denn? Das geht fast nicht. Ich schaffe es, ungefähr 200 Euro zur Seite | |
zu legen. Mehr geht nicht. | |
Reden Sie mit Freunden über Geld? | |
Nein, das behält eigentlich jeder für sich. | |
Wer leiht Ihnen Geld, wenn Sie welches brauchen? | |
Ich kenne niemanden, der mir Geld leihen könnte. | |
Wo wohnen Sie? | |
Ich wohne hier in der Weserstraße zur Miete in einer Einzimmerwohnung, | |
nicht weit weg vom Späti. Die Mieten sind hier in der Straße in der letzten | |
Zeit extrem gestiegen. Hier ist es teuer ohne Ende. | |
Möchten Sie gern woanders wohnen? | |
Nein, ich will in der Nähe des Ladens wohnen. | |
Haben Sie Kinder? | |
Einen Sohn und eine Tochter. Mein Sohn studiert Informatik, meine Tochter | |
Verwaltungswissenschaft. | |
Sehen Sie Ihre Kinder oft? | |
Ein- bis zweimal pro Woche. Sie wohnen beide in Prenzlauer Berg. | |
Wer kümmert sich um Sie, wenn Sie krank sind? | |
Ich kümmere mich um mich selbst. Ich gehe zum Doktor – und fertig. | |
Haben Sie Angst vor Arbeitslosigkeit? | |
Nein, überhaupt nicht. Solange ich gesund bin, ist doch alles okay. Arbeit | |
findet man außerdem immer, nur vielleicht für weniger Lohn. | |
Machen Sie sich Gedanken über Ihren Lebenslauf? | |
Nein, der ist mir egal. Man lebt nur einmal. Ich habe gar keinen | |
Lebenslauf. | |
Können Sie sich vorstellen, nicht lohnzuarbeiten? | |
Ja. Dann würde ich nur manchmal Cocktails mixen in der Kneipe von einem | |
Freund. Dort ist immer viel los. Ich kann mir vorstellen, dass ich da Spaß | |
ohne Ende hätte. | |
Wenn es ein bedingungsloses Grundeinkommen gäbe, wie hoch müsste es sein? | |
1.000 Euro würden mir wahrscheinlich reichen. Ich würde damit nach | |
Äthiopien gehen, das ist viel Geld dort. | |
Wie würden Sie die soziale Schicht bezeichnen, aus der Sie stammen? | |
Ich komme aus armen Verhältnissen. Mein Vater war Frisör in der Türkei. Ich | |
wäre nicht hier in Deutschland, wenn wir damals reich gewesen wären. Ich | |
bin dann wahrscheinlich obere Unterschicht oder untere Mittelschicht. | |
Haben Sie schon mal Diskriminierung erlebt? | |
Ja, oft. Nachts kommen viele besoffene Deutsche, die meinen, hier Stress | |
machen zu müssen, weil ich Ausländer bin. Die wollen mich verarschen, geben | |
mit ihrem Geld an, sprechen abfällig über mich. Die schmeiße ich sofort | |
raus. Das ärgert mich ohne Ende. | |
Wo sehen Sie sich in zehn Jahren? | |
So weit plane ich nicht. Ich sage immer: Ich kann nicht mal garantieren, | |
dass ich morgen noch lebe oder aufstehen kann. | |
Was würden Sie sich wünschen? | |
Keinen Späti mehr. Dafür eine große Wohnung, ein Auto und viel Geld. | |
26 Sep 2012 | |
## AUTOREN | |
Laurence Thio | |
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aus. |