# taz.de -- Internetjunkies im Ruhrgebiet: Die Gier nach Unendlichkeit | |
> Mediziner beschreiben Medienabhängigkeit als Sucht. Folge seien oft | |
> Depressionen und der soziale Ausstieg. Eine neue Ambulanz in Bochum | |
> bietet Hilfe. | |
Bild: In Deutschland gelten mehr als 500.000 Menschen als mediensüchtig. | |
BOCHUM taz | Am 1878 eröffneten Bochumer Stadtpark wirkt das Ruhrgebiet wie | |
ein Heilbad. Villen gruppieren sich um einen alten Baumbestand, um Rosen-, | |
Dahlien-, Rhododendronbeete. Obwohl ein letztes Walzwerk des | |
ThyssenKrupp-Konzerns nur einen Kilometer entfernt vor sich hin brummt, | |
wirbt das Restaurant „Orangerie“ um „Feinschmecker“. Als Vorspeise biet… | |
die Karte etwa „Gebratene Gänseleber auf Püree von weißen Möhren mit | |
Kaffee-Jus und karamellisierter Banane“ zu 19 Euro. | |
Gegenüber in der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie des | |
vom Landschaftsverband Westfalen Lippe getragenen Universitätsklinikums | |
Bochum sitzt Bert te Wildt in einem gerade einmal zwei Jahre alten, | |
freundlich wirkendem Gebäude. | |
Der Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie hat sich auf die Themen | |
Medien- und Internetabhängigkeit spezialisiert – und erzählt Erschreckendes | |
über die Symptome seiner meist männlichen Patienten: Die hätten sich nach | |
„Niederlagen in ihrem Privat- und Berufsleben“ in eine „virtuelle | |
Parallelwelt“ geflüchtet, säßen ganze Tage vor dem Bildschirm, | |
vernachlässigten Freunde und Familie, gingen nicht mehr zur Arbeit oder zur | |
Schule. | |
Viele Mediensüchtige seien bedingt durch „Mangelernährung, zu wenig | |
Bewegung oder Vitamin-D-Mangel durch fehlendes Sonnenlicht“ körperlich „in | |
einem vergleichsweise schlechten Allgemeinzustand“. Betroffene lebten oft | |
in „abgedunkelten Räumen, damit der Bildschirm schön strahlt.“ | |
## Den Stiefvater gewürgt | |
Hinzu kommen Aggressionen bei plötzlichem Entzug: Te Wildt berichtet vom | |
Fall eines Jugendlichen, der seinen Stiefvater gewürgt habe, als der die | |
Internetverbindung kappte. „Gerade alleinerziehende Mütter haben Angst vor | |
ihren körperlich überlegenen Söhnen im frühen Erwachsenenalter“, sagt der | |
Mediziner: „Die drohen, alles kurz- und kleinzuschlagen, wenn sie nicht | |
mehr Online zocken können“, erzählt der 42-Jährige. | |
„Andere legen sich sogar selbst einen Katheter, um nicht auf die Toilette | |
zu müssen und stattdessen möglichst lange am Rechner zu sitzen.“ Dabei ist | |
Medienabhängigkeit noch nicht als Krankheitsbild anerkannt. Um die | |
Behandlung mit den Krankenkassen abrechnen zu können, berufen sich Ärzte | |
wie te Wildt auf den Punkt F63, Unterpunkt 8, der International Statistical | |
Classification of Diseases (ICD) der Weltgesundheitsorganisation WHO. | |
Dieser beschreibt „abnorme Gewohnheiten und Störungen der Impulskontrolle“. | |
Als Vorsitzender des „Fachverbands Medienabhängigkeit“ kämpft te Wildt um | |
einen eigenständigen ICD-Eintrag. „Ein Ritterschlag“ sei immerhin, dass die | |
Jahrestagung der Bundesdrogenbeauftragten Mechthild Dyckmans am 9. Oktober | |
„exzessive und pathologische Computerspiel- und Internetnutzung“ zum Thema | |
mache – deutschlandweit gelten mehr als 500.000 Menschen als mediensüchtig. | |
Professionelle Hilfe bekamen Abhängige bisher vor allem in Berlin, Hamburg, | |
Köln, Mainz oder Hannover – das Ruhrgebiet galt als unterversorgt. Am | |
Montag hat te Wildt seine Bochumer Medienambulanz eröffnet – und berichtet | |
von 12 Patienten, die sich schon in zwei Tagen nach ersten Presseberichten | |
gemeldet hätten. | |
## Allgemeingültige Definition des Krankeitsbildes fehlt | |
Trotz fehlendem ICD-Eintrag gebe es keine Probleme mit den Krankenkassen, | |
sagt er erleichtert – und bekommt Unterstützung etwa von Christian Elspas, | |
Sprecher der Techniker-Krankenkasse in Nordrhein-Westfalen: „Wir gehen | |
natürlich davon aus“, sagt Elspas, „dass kein Arzt Patienten wegen eines | |
fehlenden ICD-Codes nicht behandelt“. | |
Trotzdem fehlt noch immer eine allgemeingültige Definition des neuen | |
Krankheitsbildes. Wie aber will te Wildt „problematischen Internetgebrauch“ | |
überhaupt diagnostizieren? Der Arzt rollt zu einem Aktenschrank in seinem | |
mit hellem Holz eingerichteten Sprechzimmer, zieht einen Fragebogen heraus: | |
Abgefragt werden darin etwa „Ruhelosigkeit, Launenhaftigkeit, Depressivität | |
oder Reizbarkeit“ bei versuchter Reduzierung des Internetgebrauchs. | |
Indiz könne aber auch sein, dass die Abhängigen Beziehungen oder Job auf | |
Spiel setzten, um möglichst lange Online zu sein. Abgeklärt werden sollen | |
auch „Kontrollverlust“, „Entzugserscheinungen“ und „körperliche | |
Konsequenzen im Bereich Körperpflege“. Seine Patienten seien zu über 90 | |
Prozent männlich, berichtet te Wildt. Klassisch sei die Gruppe junger | |
Männer, die „niemals im autonomen Erwachsenenalter“ angekommen seien und | |
sich in Online-Rollenspielen verlieren. | |
Süchtig mache offenbar die „Unendlichkeit des Internets“, die immer weiter | |
führenden Schwierigkeitsgrade immer neu eingezogener Level, für die es | |
Jahre brauche, um sie überhaupt betreten zu können. Außerdem gebe es auch | |
die Gruppe erwachsener Männer, die selbst im Job nicht auf Cybersex | |
verzichten könnten und von ihren Frauen oder Arbeitgebern in Behandlung | |
gebracht werden. „Manche sind auf der Suche nach dem perfekten Bild, das | |
ihren Paraphilien entspricht“, sagt te Wildt, um das Wort Perversion zu | |
vermeiden. | |
## Klassische Verhaltenstherapie und „Abstinezziele“ | |
Allerdings existiere auch die Selbsthilfegruppe der „Widows of World of | |
Warcraft“, die meinen, ihre Männer an das gleichnamige Computerspiel | |
verloren zu haben. „Die Computerspiel-Industrie hat ein Rieseninteresse, | |
dass die These bestehen bleibt, jeder Medienabhängigkeit gehe eine andere | |
psychische Erkrankung voraus“, klagt te Wildt – dabei sei die Frage nach | |
Ursache und Wirkung zumindest „bidirektional“: Ob exzessive Internetnutzung | |
zu Depressionen oder Aggressionen führe oder umgekehrt, spiele für die | |
Abhängigen keine Rolle. | |
Helfen will der Mediziner seinen Patienten mit einer klassischen | |
Verhaltenstherapie: Im Gespräch soll ihnen klar werden, dass und wovon sie | |
abhängig seien. Ab November sollen zusammen mit anderen Abhängigen | |
„Abstinenzziele“ erarbeitet werden – hilfreich seien auch Filterprogramme, | |
die bestimmte Inhalte auf dem Rechner blockieren, oder Zeitschaltuhren, die | |
die Nutzung begrenzen. | |
Das die Arbeit im sachlich gehaltenen, an einen Konferenzraum mit großer | |
Glasfront erinnernden Gruppenraum nicht einfach wird, ist te Wildt klar: | |
Wenn etwa ein Avatar als virtuelles Ich abgeschaltet wird, führe das fast | |
immer zu Angst und Stress: „Die Patienten haben das Gefühl, es sterbe ein | |
Teil von Ihnen.“ | |
5 Oct 2012 | |
## AUTOREN | |
Andreas Wyputta | |
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