# taz.de -- Befund zu radioaktiver Strahlung: Die kubanische Mädchenlücke | |
> In Kuba wurden nach dem Super-GAU von Tschernobyl ungewöhnlich viele | |
> Jungen geboren. Grund seien radioaktiv belastete Lebensmittelimporte aus | |
> der Sowjetunion. | |
Bild: 18 Prozent höher war die Zahl der Jungen, die ein Jahr nach Tschernobyl … | |
BERLIN taz | Mehr als 26 Jahre nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl | |
sorgt ein neuer Befund für Aufsehen, und zwar aus Kuba. Auf der | |
atomkraftfreien Karibikinsel waren bislang keine Strahlenschäden bekannt | |
geworden. Doch die vom staatlichen Hygiene-Institut Havanna veröffentlichte | |
Geburtenstatistik zeigt jetzt eine auffällige Veränderung, wie das | |
Umweltmagazin zeo2 in seiner neuen Ausgabe berichtet. | |
Ab 1987, also exakt ein Jahr nach der Reaktorkatastrophe in der Ukraine, | |
hat sich in Kuba das Geschlechterverhältnis bei den Geburten auffällig | |
verschoben. Der Statistik zufolge sind signifikant weniger Mädchen als | |
Jungen auf die Welt gekommen. Auf bis zu 118 Jungen kamen demnach 100 | |
Mädchen. Erst ab dem Jahr 2000 hat sich das Verhältnis wieder normalisiert. | |
Dasselbe Phänomen war auch in Mittel- und Osteuropa in den vom Fallout | |
betroffenen Gebieten und im Umkreis einiger Atomanlagen wie etwa in | |
Gorleben beobachtet worden. | |
Aber wie soll die Strahlung ausgerechnet nach Kuba gelangt sein? Die | |
Antwort liefert der Blick auf die Importe von Lebensmitteln. Wegen des | |
Embargos war die Karibikinsel stark auf die Einfuhr von Nahrungsmitteln aus | |
der Sowjetunion angewiesen. Zeitweise wurden bis zu 63 Prozent der | |
Lebensmitteleinfuhren vom „großen sozialistischen Bruder“ geliefert. | |
Offenbar wurden dabei verseuchte Waren nach Kuba gebracht. | |
„Der gesunde Menschenverstand legt nahe, dass nicht nur saubere, sondern | |
auch radioaktiv belastete Lebensmittel nach Kuba gingen“, sagt der | |
Biostatistiker Hagen Scherb vom Helmholtz-Zentrum München. Scherb und seine | |
Forschergruppe untersuchen seit Langem den Zusammenhang zwischen | |
radioaktiver Strahlung und dem Verhältnis von Jungen und Mädchen bei der | |
Geburt. Weil der weibliche Embryo sehr viel sensibler auf | |
Strahlenbelastungen reagiert, kommt es bei Schwangerschaften mit Mädchen | |
häufiger zum Absterben des Embryos. Deshalb werden unter dem Einfluss | |
erhöhter Radioaktivität mehr Jungen geboren. | |
Der Bericht des staatlichen Hygiene-Instituts Havanna zu den veränderten | |
Geburtenzahlen ist im medizinischen Fachblatt American Journal of | |
Epidemiology erschienen. Autorin ist die kubanische Medizinerin Silvia | |
Venero Fernández. Sie dokumentiert die eindrucksvolle „Mädchenlücke“, | |
findet selbst aber „keine klare biologische Erklärung“, wie sie schreibt. | |
Ihre Spekulationen richten sich auf die Wirtschaftskrise in Kuba in den | |
90er Jahren, die möglicherweise das Geschlechterverhältnis bei Geburt | |
beeinflusst habe. | |
## Exakt ab 1987 – ein Jahr nach Tschernobyl | |
In Kriegs- und Krisenzeiten kann dieses sich tatsächlich verändern. | |
Allerdings ist die Mädchenlücke in Kuba, wie die Helmholtz-Wissenschaftler | |
betonen, nicht erst in den 90er Jahren, sondern exakt ab dem Jahr 1987, | |
also vor Beginn der Wirtschaftskrise, erstmals aufgetreten. | |
Eine andere Erklärung könnte eine selektive Abtreibung von Mädchen sein, | |
wie sie etwa in China wegen der Ein-Kind-Politik beobachtet worden war. | |
Doch in Kuba ist dieses Phänomen gänzlich unbekannt. Und warum sollten die | |
Abtreibungen genau ein Jahr nach Tschernobyl beginnen? | |
Inzwischen wird die kubanische Mädchenlücke auch in anderen medizinischen | |
Fachblättern diskutiert. Der naheliegende Zusammenhang zu | |
Strahlenbelastungen, wie er auch nach Atombombentests dokumentiert wurde, | |
wird allerdings von den meisten Wissenschaftlern nach wie vor bestritten. | |
Für den Berliner Arzt und Epidemiologen Christoph Zink, Autor des | |
zeo2-Artikels zum Kuba-Befund, ist diese „hartnäckige Ignoranz“ der letzte | |
Versuch, das alte Weltbild der Strahlenbiologie und seine von der | |
Wirklichkeit längst überholten Grenzwerte aufrechtzuerhalten. | |
7 Oct 2012 | |
## AUTOREN | |
Manfred Kriener | |
## TAGS | |
Tschernobyl | |
Schwerpunkt Atomkraft | |
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