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# taz.de -- Soloalbumdebüt von Chris Cohen: Anrufer aus dem Jenseits
> Mit der US-Band Deerhoof wurde er bekannt. Nun vervollkommnet der
> kalifornische Musiker Chris Cohen seine musikalische Vision im
> Alleingang.
Bild: Chris Cohen, der B.Traven des Pop.
Am Anfang muss Unmut bekundet werden, ja Enttäuschung darüber, wie die
einst (auch von mir) gefeierte kalifornische Indieband Deerhoof zu dem
wurde, was sie heute ist: ein eindimensionaler Progrock-Abklatsch ihrer
selbst.
Für diesen unkreativen Sinkflug Richtung Profimuckertum gibt es nun eine
Erklärung: „Overgrown Path“, das formidable Solodebütalbum des ehemaligen
Deerhoof-Gitarristen Chris Cohen. Es hat all das, was der Band fehlt, seit
er 2008 ausgestiegen ist: Popsensibilitäten und Überraschungseffekte,
psychedelische Verwaschungen und eine smoothe, fast drone-artige Unruhe,
exakt das also, was den (Frei-)Geist von Deerhoof auf Killer-Alben wie
„Apple O“ oder „Milkman“ ausgemacht hat. Und klar, bis das Prädikat �…
des Jahres“ vergeben wird, fließt noch reichlich Wasser den Mersey River
hinunter.
Mein Geheimfavorit ist „Overgrown Path“ aber schon jetzt, weil es seinem
Außenseiter-Bonus so unbelehrbar wie ein Geisterfahrer entgegenfährt. Die
fahren falsch, nicht ich!
## Der B. Traven des Pop
Bisher galt Chris Cohen ja als B. Traven des US-Seltsamsounds, auf
verlorenem Posten stehend zwischen Odyssee und Orakel. In der Vergangenheit
hatte er seine Talente in Kollaborationen mit anderen Musikern unter
seltsamen Projektnamen (etwa unter dem Namen The Curtains) fast mutwillig
verbrannt. Ende der Nullerjahre schweifte er eine Weile gar als
Tour-Aushilfe umher, unter anderem bei Cass McCombs oder Ariel Pinks Mensch
gewordenem Streichelzoo Haunted Graffiti.
Inzwischen hat Cohen seinen Heimatbahnhof Los Angeles Richtung Vermont
verlassen, wo auch „Overgrown Path“ über den Zeitraum eines Jahres
entstanden ist. Übrigens auf einer, wie es das Klischee uns glauben machen
möchte, abgelegenen Farm.
Die zehn Songs ziehen einen Schlussstrich unter Cohens künstlerische
Selbstlosigkeit. Sie zeigen einen Songwriter, Sänger und
Multiinstrumentalisten in his own right. Cohen lässt hier Arrangements
fallen, die anderen nicht im Traum erscheinen würden. Delikat aufgefächert,
mit Hooks und Spuren, die sich bei jedem Hören anders anfühlen,
umgruppierbar wie italienische Sitzmöbel in einem vergilbten Designkatalog
aus den Siebzigern.
Was das Klangbild angeht, bleibt der 37-Jährige einem Kaleidoskop-Sound
treu, den er schon bei Deerhoof hatte entwickeln können: die milchig
verschwommene Signatur inklusive abgedämpften Drums, kristallklar
angeschlagener und hyper-dynamisch eingespielter Gitarrenriffs und
gelegentlicher Streicheleinheiten von Piano und Farfisa-Orgel. Auf diesen
insgesamt kargen Untersatz bettet er seine unaufdringliche, manchmal an den
britischen Sänger Robert Wyatt erinnernde Croonerstimme.
## Um Jahre gealtert
Wie Wyatt hält sich auch Cohen mit seinem Gesang vornehm zurück, lässt die
Silben nachklingen und spinnt mit den Instrumenten die losen Enden aus den
Texten weiter, um Anknüpfungspunkte an andere große Schwierige des Pop zu
finden. Man weiß gar nicht, wohin man zuerst abschweifen soll. Erst zu Skip
Spence oder gleich zu Mayo Thompson? Erst wenn der letzte Ton verklungen
ist, merkt man aber, wie sich unter dem Sauerstoffzelt von Chris Cohens
Musik um Jahre altern lässt.
Und, man merkt ihm die künstlerische Freiheit an, die sich mit der
Entscheidung ergeben hat, alles im Alleingang einzuspielen. „Woke up a year
too late/Just to sit around and wait“, singt Chris Cohen in dem Song
„Caller No. 99“. Der Text handelt von mysteriösen Stimmen und Signaltönen
einer Radiostation, Anrufern aus dem Jenseits. Eher Mittelwelle als UKW.
Weit draußen und doch einzigartig in seiner Nüchternheit und so was von
jetzt. Diesmal ist die Zeit auf Chris Cohens Seite.
Chris Cohen „Overgrown Path“ (Captured Tracks/Cargo)
8 Oct 2012
## AUTOREN
Julian Weber
Julian Weber
## TAGS
taz Plan
Chris Cohen
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