| # taz.de -- Glücksatlas 2012: Peggy sucht das Mini-Glück | |
| > Angst vor der Krise haben die Deutschen nicht, sagt der „Glücksatlas | |
| > 2012“. Nur ohne Arbeit möchten sie nicht sein, schon eine prekäre | |
| > Beschäftigung befriedigt. | |
| Bild: Arbeitslosgkeit macht unglücklich. Nachzulesen im aktuellen Glücksatlas. | |
| BERLIN taz | Das letzte Mal, als Peggy Winter glücklich war, packte sie | |
| Sachen in eine Plastiktüte: Klebeband, Filzstifte, einen Radiergummi. Die | |
| Verkäuferin räumte die Waren für eine Kundin ein, die diese in dem Laden | |
| eingekauft hatte, in dem Peggy Winter in Berlin-Mitte arbeitet. Sie hätte | |
| das nicht tun müssen. Aber die Kundin habe so nett gelächelt, dass sie es | |
| eben einfach tun musste, sagt Peggy Winter: „Das hat mich froh gestimmt.“ | |
| Peggy Winter ist 38 Jahre alt und laut einer neuen Umfrage der Prototyp des | |
| Glücks: Sie kommt aus dem Osten, hat einen Sohn, einen Freund und einen | |
| kleinen Job. Der [1][„Glücksatlas 2012“] hat im September herausgefunden, | |
| dass die Euro- und Wirtschaftskrise den Deutschen nicht viel anhaben kann. | |
| Stattdessen sind sie in ihrem Glücksempfinden seit einiger Zeit stabil. | |
| Dazu hätten vor allem die Ostdeutschen beigetragen. Denn die haben laut | |
| Studie mehr als zwanzig Jahre nach der Wende endlich aufgeholt beim | |
| persönlichen Wohlbefinden. | |
| Ist Peggy Winter nun also glücklich? Die Frau – blonder Zopf, Jeans, weiße | |
| Bluse – sitzt vor einem Milchkaffee in einer stillen Seitengasse im Bezirk | |
| Prenzlauer Berg. Sie hält ihr Gesicht in die Sonne, überlegt kurz und | |
| antwortet mit einer Gegenfrage: „Wann ist man glücklich?“ | |
| Ja, wann ist man das? | |
| Es gibt keine eindeutige Definition von Glück. Das Onlinelexikon Wikipedia | |
| weiß, dass dazu „Empfindungen vom momentanen Glücksgefühl bis zu | |
| anhaltender Glückseligkeit“ gehören. Für das „Glücksarchiv“, ein | |
| Internetportal, das sich einzig mit dem Glück beschäftigt, ist das „ein | |
| Zustand, in dem sich eine Person befindet und der sich durch ein | |
| allgemeines, oft unbewussten Wohlbefinden auszeichnet“. Glückskenner und | |
| Buchautor Eckhard von Hirschhausen hat herausgefunden, dass es nicht ein | |
| einziges Gefühl ist, sondern es sind fünf verschiedene Empfindungen: | |
| Gemeinschaft, Zufall, Momentaufnahmen, Selbstüberwindung, Fülle. | |
| ## Arbeitslosigkeit ist glückshemmend | |
| Von Arbeit als Erfüllung ist in keiner dieser Erklärungen die Rede. Von | |
| Arbeit spricht aber der „Glücksatlas“, den die Deutsche Post in Auftrag | |
| gegeben hat und den zwei Wissenschaftler erstellt haben. Dazu haben sie | |
| Umfragen unter Frauen und Männern, Jungen und Alten, Ossis und Wessis | |
| durchgeführt. Sie haben Einkommen berechnet und verglichen, tief in der | |
| Geschichte gegraben und weit in die Zukunft geschaut. „Der Verlust des | |
| Arbeitsplatzes ist eines der gravierendsten Glückshemmnisse“, schreiben der | |
| Generationenforscher Bernd Raffelhüschen und Klaus-Peter Schöppner, Chef | |
| des Meinungsforschungsinstituts Emnid, in ihrem Report. | |
| Peggy Winter kennt das Gefühl, gehemmt zu werden. In der DDR hat sie | |
| Näherin gelernt. Sie war noch gar nicht richtig eingestiegen in ihren | |
| Beruf, da kam die Wende und fegte ihren Betrieb weg. „Ohne Arbeit, das | |
| konnte ich mir nicht vorstellen“, sagt sie: „Das ganze Leben ist doch auf | |
| Arbeit ausgerichtet.“ | |
| In dem Dorf in der Nähe von Neustrelitz in Mecklenburg, wo sie damals | |
| wohnte, gab es nach dem Mauerfall viel weite Fläche, aber keine Jobs. So | |
| ging sie nach Berlin und schulte um: Bäckereifachverkäuferin und später | |
| nochmal Kauffrau für Bürokommunikation. Sie arbeitete Vollzeit, so wie sie | |
| es gewohnt war. Bis sie ein Kind bekam. Aber ihr Sohn, heute 15, war von | |
| Anfang an schwierig, die Ärzte diagnostizierten ADHS, eine | |
| Aufmerksamkeitsdefizits- und Hyperaktivitätsstörung. | |
| Seit ihr Sohn da ist, muss Peggy Winter Termine einhalten: bei Ärzten und | |
| Psychologen, in der Kita und in der Schule, in sozialen Einrichtungen. Seit | |
| seiner Pubertät hat die Mutter zudem mit der Polizei zu tun, mit | |
| Jugendämtern, mit Kriseneinrichtungen. „Fast jeden Tag passiert etwas | |
| anderes.“ | |
| Seit sie ihren Sohn hat, kann sie nicht mehr „richtig arbeiten“, sagt sie | |
| und meint damit: nicht mehr Vollzeit. Ihr Sohn braucht viel Betreuung und | |
| viel Kontrolle. Welcher Arbeitgeber macht das mit? Peggy Winter schlängelt | |
| sich seit Jahren von Job zu Job: Teilzeitstellen, 400-Euro-Verhältnisse, | |
| Bäckerein, Cafés, Büros. Zwischendurch ist sie immer mal wieder arbeitslos. | |
| In den ersten Tagen putzt sie dann erst mal die Wohnung. Wenn alles blitzt, | |
| bringt sie Flaschen weg. Wenn auch das getan ist, sitzt sie auf dem Sofa | |
| und starrt in die Luft. Dann fällt ihr die Decke auf den Kopf, sagt sie: | |
| „Ich komme mir so nutzlos vor.“ | |
| ## Minijobs machen glücklich | |
| Zu dieser Erkenntnis kommt auch die aktuelle Glücksstudie. Die | |
| psychologischen Leiden fallen meist deutlich schwerer ins Gewicht als nur | |
| die materielle Unsicherheit, heißt es in der Untersuchung. Dazu gehören | |
| Selbstzweifel, der Verlust sozialer Bindungen und allgemeine | |
| Zukunftsängste. Neu ist das nicht, das weiß jeder, der schon mal ohne Job | |
| dastand. Der Glücksatlas hat aber herausgefunden, dass auch Minijobs | |
| glücklich machen. Das verwundert. Denn aus anderen Studien ist bekannt, | |
| dass Minijobber höchst unzufrieden sind. Ihre Stellen sind unsicher, die | |
| Tätigkeiten oft eintönig, der Lohn ist mies. Warum tun sich Minijobber das | |
| an? | |
| In den Umfragen zum Glücksatlas haben die Wissenschaftler erlebt, dass | |
| Arbeitslose, die weiter arbeitslos blieben, „überdurchschnittlich | |
| unzufrieden“ waren, sagt Bernd Raffelhüschen. Aber diejenigen, die eine | |
| kleine Stelle ergattern konnten, rutschen auf der Glücksskala nach oben. | |
| Daraus schlussfolgert Bernd Raffelhüschen: „Jede Form von Arbeit begünstigt | |
| die Zufriedenheit.“ | |
| Peggy Winter hat seit zwei Jahren diesen 400-Euro-Job. Der reicht nicht zum | |
| Leben, sie und ihr Sohn bekommen außerdem Hartz IV. | |
| Das Minigehalt wird mit der Sozialleistung verrechnet, am Ende bleiben von | |
| 400 Euro 160 Euro übrig. | |
| „Damit kommt man nicht weit“, sagt sie: „Aber es ist immer noch besser, a… | |
| nur Bittstellerin auf dem Arbeitsamt zu sein.“ | |
| ## Besser als nichts | |
| Und es ist besser, als zu Hause zu sitzen, sagt sie: „Ich bin unterwegs und | |
| mit meinen Kollegen zusammen, wir reden über alles Mögliche, manchmal auch | |
| über Privates. Das brauche ich.“ Sie arbeitet drei Tage in der Woche. Sie | |
| sitzt an der Kasse, bepackt Regale, räumt auf. Das ist nicht das, was sie | |
| bis an ihr Lebensende machen will. Aber „es ist besser als nichts“. | |
| Sie ist häufig allein im Laden, dann kann sie nicht mal zur Toilette gehen. | |
| Aber sie kann sich ihre Schichten so legen, dass sie in ihrer freien Zeit | |
| ihren Sohn betreuen kann. „Alle haben Verständnis für meine Situation“, | |
| sagt sie: „Wo habe ich schon solch eine Freiheit?“ | |
| Ist das Glück? Ja, das ist Glück, sagt Peggy Winter. Es nicht das große | |
| Glück, von dem träumt sie eh nicht. Aber es ist mehr, als sie ohne diesen | |
| kleinen Job hätte. | |
| Manchmal ärgert sie sich trotzdem. So wie neulich. Sie räumte Regale ein | |
| und eine Frau kaufte irgendetwas für 39 Cent. Peggy Winter eilte zur Kasse, | |
| tippte die Summe ein, wechselte den Euro, sagte „Bitte schön“ und schob die | |
| Ware ans Ende des Laufbands. Die Kundin wartete und sagte nicht einmal | |
| „Danke“. „Sie können jetzt einpacken“, sagte stattdessen Peggy Winter.… | |
| muss ich selber machen?“, erregte sich die Frau. „Ja“, sagte Peggy Winter: | |
| „Hier gibt es keinen Packservice.“ | |
| Hätte Peggy Winter gern mehr Geld, mehr Zeit, mehr Luxus? „Ich würde gern | |
| mal wieder Urlaub machen“, sagt sie: „Es ist drei Jahre her, seit ich das | |
| letzte Mal weggefahren bin.“ Aber eine Reise ist zurzeit nicht drin, dafür | |
| reicht der 400-Euro-Job nicht. | |
| 10 Oct 2012 | |
| ## LINKS | |
| [1] http://www.gluecksatlas.de/cms/2012/index.jsp | |
| ## AUTOREN | |
| Simone Schmollack | |
| ## TAGS | |
| taz.gazete | |
| Psychologie | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Plädoyer gegen die Vollkaskomentalität: Volle Kanne Leben | |
| Was hindert uns eigentlich daran, uns zu emanzipieren? Als Gesellschaft. | |
| Anderen gegenüber. Fehlender Mut und die Sehnsucht nach Verlässlichkeit. | |
| Selbstmanagement und -vermarktung: „Du musst es wollen, Baby!“ | |
| Die neuen Konzepte in Schule und Beruf werden unter den Stichwörtern | |
| Mitbestimmung und Selbstverwirklichung angepriesen. Doch vieles ist nur | |
| Schein. | |
| Umfrage über Arbeitslose: Und ewig funktioniert das Vorurteil | |
| Mehr als die Hälfte der Bundesbürger glaubt immer noch, Arbeitslose seien | |
| faul. Das zeigt eine neue Umfrage. Mit der Realität hat das jedoch wenig zu | |
| tun. | |
| Glücksatlas 2012: Ostdeutsche Avantgarde des Glücks | |
| Bei der Zufriedenheit holen die Ostdeutschen auf. Eine weitere | |
| Überraschung: Mini-Jobs machen glücklicher als Arbeitslosigkeit. |