# taz.de -- Selbstmanagement und -vermarktung: „Du musst es wollen, Baby!“ | |
> Die neuen Konzepte in Schule und Beruf werden unter den Stichwörtern | |
> Mitbestimmung und Selbstverwirklichung angepriesen. Doch vieles ist nur | |
> Schein. | |
Bild: Größer, weiter, schöner: Du musst nur deinen inneren Schweinehund übe… | |
BERLIN taz | Die Anforderungen an die Arbeitenden haben sich in den letzten | |
Jahren dramatisch verändert: Statt rigider Unterwerfung unter vorgegebene | |
Arbeitsrituale ist Anpassung an die Vorgaben des Marktes gefragt. | |
Eigeninitiative, Wettbewerbs- und Kundenorientierung, Selbstmanagement und | |
Selbstvermarktung heißen die modernen Arbeitstugenden. | |
Der Soziologe [1][Ulrich Bröckling] von der Universität Freiburg hat | |
hierfür den Begriff des „unternehmerischen Selbst“ geprägt. Wie die damit | |
einhergehenden Techniken der Subjektivierung auf Bildungs- und | |
Sozialisationsprozesse übergreifen, war das Thema einer Tagung, die Anfang | |
März an der Freien Universität Berlin stattfand. | |
Die von der [2][Neuen Gesellschaft für Psychologie] unter dem Titel | |
[3][“Machtwirkung und Glücksversprechen“] organisierte Tagung spielte auf | |
die beiden Pole an, zwischen denen sich Bildung in der bürgerlichen | |
Gesellschaft bewegt: Einerseits dem Versprechen auf ein besseres Leben, | |
andererseits der Rationalität der Macht, denen die Bildenden im Prozess der | |
Bildung unterworfen sind. | |
Dabei konstatierte der Berliner Psychologe [4][Christoph Bialluch] einen | |
Wandel von repressiven zu „produktiven“ Techniken der Macht. So setzten | |
sich Methoden, bei denen sich die Betroffenen verpflichteten, bestimmte | |
Ziele zu verfolgen und sich dabei selbst zu kontrollieren, immer mehr | |
durch. | |
Wie dieses Konzept in der Schule umgesetzt wird, machte der Kinder- und | |
Jugendlichentherapeut Uwe Findeisen deutlich. Unter dem Vorwand, dass sie | |
den Schülern eine individuellere Art des Lernens ermöglichen, | |
transportieren manche alternativen Lernmethoden neoliberale Techniken der | |
Selbstformierung in den Unterricht. | |
## Mitbestimmung und Benotung | |
Exemplarisch lässt sich das an der Arbeit mit Portfoliomappen zeigen, die | |
als neue Art der Leistungsbewertung dienen. Dabei stellen SchülerInnen eine | |
Auswahl ihrer Arbeiten zusammen und wirken gleichzeitig bei der Festlegung | |
der Beurteilungskriterien und der Einschätzung der eigenen Leistung mit. | |
Damit soll eine stärkere Mitbestimmung der Lernenden ermöglicht werden. | |
Letzten Endes bestimmen aber die Lehrenden, wie das Portfolio benotet wird. | |
Ähnliche Prozesse scheinbarer Selbstevaluation finden sich auch in einer | |
Sphäre, die man gemeinhin nicht mit Bildung assoziiert: Auch in | |
Castingshows werden die Kandidatinnen und Kandidaten permanent | |
aufgefordert, die eigene Leistung zu bewerten. Dies gilt auch für die | |
Model-Castingshows, die die Berliner Erziehungswissenschaftlerin [5][Andrea | |
Nachtigall] untersuchte. | |
Sie bieten ihren Rezipientinnen, meistens Mädchen in der Pubertät oder | |
Vorpubertät, Rollenmodelle zur Ausformung der eigenen Identität. Zwar | |
bedienen sie traditionelle Geschlechterstereotype, so müssen die | |
Kandidatinnen schön, schlank und heterosexuell sein, gleichzeitig zeigen | |
sie aber scheinbar einen spezifisch weiblichen Weg zu beruflicher | |
Professionalität. Gutes Aussehen allein genügt dabei nicht. Vielmehr wird, | |
so Nachtigall, „die Arbeit am Ich als Weg zu einem neuen Leben“ vorgeführt. | |
## Schön. stark und erfolgreich | |
So müssen die Kandidatinnen verschiedene „Challenges“, zum Beispiel | |
Shootings in schwindelerregender Höhe oder Eiseskälte, bewältigen. Über das | |
in Model-Castings vermittelte Versprechen, als Frau zugleich schön, stark | |
und erfolgreich sein zu können, wird gleichzeitig eine neoliberale | |
Leistungsmoral transportiert. | |
Heidi Klums Parole „Du musst es wollen, Baby!“, suggeriert, dass der Traum | |
vom beruflichen Aufstieg bei entsprechendem Einsatz jederzeit möglich ist. | |
Wie in den von Bröckling beschriebenen Qualitätssicherungsprozessen großer | |
Konzerne sind die Kandidatinnen dabei einem Rundum-Feedback ausgesetzt: | |
Nicht nur die eigene Leistung, sondern auch die der Mitbewerberinnen wird | |
ständig der Bewertung unterzogen. | |
Dabei erwerben sie Kompetenzen, die auch jenseits einer Model-Karriere von | |
manchen Arbeitgebern gern gesehen werden: zum Beispiel mit Konkurrenz | |
umzugehen und demütigende Kommentare stumm zu ertragen. | |
## Kompetenz udn Atomangst | |
Weitere Themen des Kongresses waren zum Beispiel Psychotherapieforschung, | |
interkulturelle Kompetenz oder Atomangst, wobei sich das Thema Glück als | |
roter Faden durchzog. | |
Dass zu viele Handlungsoptionen eher unglücklich machen, zeigte der Beitrag | |
von Josua Handerer, der über die „Quarter-Life-Crisis“ referierte und sich | |
in einer Eigenanamnese „1982 geboren, ledig, Doktorand“ zugleich als | |
Prototyp für das Störungsbild anbot. Er beschrieb die psychischen Nöte von | |
knapp Dreißigjährigen, die oft kurz vor oder nach dem Ende ihrer Ausbildung | |
eine dramatische Lebenskrise erfasst. | |
Die Betroffenen plagen tiefsitzende Ängste, sich falsch zu entscheiden, und | |
ein Selbstbild, das zwischen Größenfantasien und Kleinheitsgefühlen | |
schwankt. „Anstatt unser Leben aktiv zu gestalten, befürchten wir es zu | |
verpassen. Anstatt uns selbst zu verwirklichen, quält uns die Angst, uns zu | |
verfehlen“, beschreibt Handerer den typischen Gemütszustand. | |
## Leistungsideale der Moderne | |
Was als Luxusproblem von Langzeitstudenten und Viva-Moderatorinnen | |
erscheint – auch [6][Sarah Kuttner] hat ein Buch zum Thema verfasst –, hat | |
jedoch einen ernsten Hintergrund. Es zeigt die Kehrseite des | |
unternehmerischen Selbst, das unter dem Druck der Ansprüche an die eigene | |
Person zum „erschöpften Selbst“ mutiert, von dem der französische Soziolo… | |
Alain Ehrenberg spricht. | |
Er versteht darunter eine Depression, die durch die Leistungsideale der | |
Moderne ausgelöst wird. Dazu passt, dass depressive Störungen unter | |
Schülern, Studierenden und jungen Erwachsenen stark zunehmen. Das könnte | |
auch damit zusammenhängen, dass diese anders als ihre Vorgängergenerationen | |
das neoliberale Credo „Du kannst es schaffen, wenn Du wirklich willst!“ | |
schon früh verinnerlicht haben. | |
So wird Erfolg als persönliches Verdienst und Scheitern als persönliches | |
Versagen verstanden. Mit einem solchen Erklärungsmuster sind jedoch | |
Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit vorprogrammiert. Sie sind solchen | |
Gefühlen viel stärker ausgesetzt als diejenigen, die glauben, dass | |
Misserfolg auf äußere – zum Beispiel gesellschaftliche Ursachen – | |
zurückzuführen ist. | |
22 Mar 2013 | |
## LINKS | |
[1] http://www.soziologie.uni-halle.de/broeckling/ | |
[2] http://www.ngfp.de/ | |
[3] http://www.ngfp.de/2012/06/cfp-kongress-2013/ | |
[4] http://beides.org/beides/Christoph_Bialluch.html | |
[5] http://www.khsb-berlin.de/hochschule/personen/personenverzeichnis/l-n/nacht… | |
[6] http://www.sarahkuttner.de/ | |
## AUTOREN | |
Dagmar Schediwy | |
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Psychologie | |
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