# taz.de -- Interview Klaus Hurrelmann: "Viele Kinder haben sich aufgegeben" | |
> Kinder, die nur eine Hauptschulempfehlung bekommen, fühlen sich heute | |
> abgehängt. Deswegen gehört dieses System umgebaut, sagt der | |
> Bildungsforscher Klaus Hurrelmann. | |
Bild: Zuerst schulbegeistert, später kommt die Selektion: Grundschüler. | |
Klaus Hurrelmann: Ja, denn ich war immer ein neugieriger Schüler. Und | |
eigentlich müsste die Schule heute sogar viel besser sein als zu meiner | |
Zeit, weil wir viele neue pädagogische Erkenntnisse gewonnen haben. | |
Schätzungen zufolge gehen 300.000 bis 500.000 Jugendliche nicht gerne zur | |
Schule. Wie lautet hier die richtige Frage: Was machen diese Kinder und | |
Jugendlichen falsch? Oder: Was hat man ihnen angetan? | |
Eindeutig letztere: Was hat man diesen Kindern angetan? Alle Studien, alle | |
Erfahrungen belegen: Kinder sind von Natur aus neugierig und lernbegierig. | |
Sie wollen zeigen, was sie können. Dieses Bewusstsein ist bei Kindern und | |
Jugendlichen heute noch stärker ausgeprägt als früher. Weil alle spüren - | |
auch die aus den bildungsärmsten Familien -, dass wir in einer Gesellschaft | |
leben, in der die individuelle Leistung bestimmt, wohin man kommt. Im | |
Grunde müssten alle gerne zur Schule gehen wollen. | |
Wie kann es dann sein, dass so viele Schüler an der Schule scheitern? | |
Weil die Schule ihnen nicht gerecht wird. In der Grundschule ist die Lage | |
noch am besten, da lautet die Grundkonzeption des Schulsystems: "Wir müssen | |
uns auf die Kinder zubewegen und ihnen ein Angebot machen." Das war in den | |
70ern noch anders, und die positive Entwicklung der Grundschulen ist | |
vermutlich auch der Schlüssel dafür, weshalb Deutschland im internationalen | |
Vergleich hier heute ganz gut abschneidet. An den weiterführenden Schulen | |
aber versündigen wir uns pädagogisch an den Kindern. | |
Wo genau liegt das Problem? | |
Plötzlich lautet die pädagogische Philosophie von Gymnasium und Realschule: | |
"Wir suchen nur die Kinder aus, die zu uns passen, die anderen weisen wir | |
ab." Für diejenigen, die nicht die Erwartungen erfüllen, haben wir dann | |
eine Auffangschule, die Hauptschule. In Finnland oder Kanada ist das genau | |
umgekehrt: Sie schauen, welche Stärken die Schüler haben und welche | |
Schwächen. Und passen die pädagogische Arbeit, die Didaktik, das | |
Lehrerverhalten, kurzum das ganze Schulsystem den Schülern an. Sie setzen | |
also das Konzept fort, das wir aus den Grundschulen kennen. | |
Wer die Hauptschule ohne Abschluss verlässt, erhält ein "Abgangszeugnis" | |
als Dokument des Scheiterns. Gäbe es nicht eine bessere Alternative? | |
Wenn eine Gesellschaft jedes Jahr 80.000 Jugendliche mit dem amtlichen | |
Beleg "Ihr erfüllt nicht die Mindestanforderungen" aus dem Schulsystem | |
entlässt, dann ist das eine ganz bittere Erfahrung des Versagens für diese | |
jungen Leute. Wir brauchen eine sachlich faire und menschenwürdige Form der | |
Dokumentation von Leistungen; sodass jeder einzelne Schüler etwas vorzeigen | |
kann, was seine Fähigkeiten detailliert auflistet. Ich bin für ein | |
Schul-Abschluss-Zertifikat für jeden, das durch genaue Beschreibung die | |
Noten ergänzt. Den Namen "Hauptschul-Abgangszeugnis" würde ich ersatzlos | |
streichen. | |
Was genau stört Sie daran? | |
Das Zeugnis mit einer Schulform zu verbinden, hat sich als sehr | |
problematisch erwiesen. Wir sagen ja auch nicht Gymnasialabschluss, sondern | |
"Abitur". Wir sagen "Mittlere Reife". Dann muss es doch Möglichkeiten | |
geben, einen verständlichen Begriff zu finden, der das Gleiche für einen | |
grundlegenden Basisabschluss der Pflichtschulzeit abbildet. | |
Allein die Bezeichnung "Hauptschule" ist schon demotivierend? | |
Genau. Das Zuweisen von Schülern zu einer Hauptschule allein führt zu dem | |
Gefühl: "Im Grunde habe ich verloren, ob ich da noch hingehe oder nicht, | |
macht für meine späteren beruflichen und gesellschaftlichen Chancen | |
praktisch nichts mehr aus." Diese Klassifizierungsmuster gehören | |
abgeschafft. | |
Wäre es nicht besser, die Hauptschule ganz abzuschaffen? | |
Dafür plädiere ich seit langer Zeit. Wenn wir nicht wollen, dass die | |
schwachen Schülerinnen und Schüler sich in bestimmten Schulformen sammeln, | |
dann müssen wir das weiterführende Schulsystem umbauen. Viele der | |
skandinavischen Länder haben das bereits vor etwa 20 Jahren getan und | |
großen Erfolg damit gehabt. Sie haben die Grundschule verlängert und eine | |
einheitliche Schulform auch für die höheren Jahrgänge etabliert. Eine | |
Gemeinschaftsschule oder Gesamtschule, wie auch immer man sie nennen will. | |
Da muss Deutschland auch hin? | |
Das sollte unser Fernziel sein. Ich kann mir aber nicht vorstellen, dass | |
wir das in einem einzigen Reformschritt schaffen. | |
Warum nicht? | |
Dazu ist das System bei uns historisch zu stark gewachsen und in der | |
Vorstellung der Eltern zu fixiert. Aber wenn wir weiter ein sehr stark | |
aufgegliedertes Schulsystem haben, dann werden sozial und leistungsmäßig | |
benachteiligte Schüler einfach in bestimmte Schulformen abgeschoben. Und | |
diese Schüler motivieren sich untereinander nicht nach oben, sondern nach | |
unten. Alle Studien bestätigen das. | |
Was heißt das? Wie lauten die konkreten Reformschritte? | |
Das heißt, die Vielgliedrigkeit des Schulsystems mit Augenmaß zunächst auf | |
zwei Schulformen zu reduzieren. Ich persönlich finde zwei Stränge sehr gut, | |
wobei dann die Schulformen sich die Schüler nicht mehr gegenseitig | |
zuschieben dürfen, sondern einmal aufgenommene Schüler auch behalten | |
müssen. Oder sie dürfen nur im Einvernehmen mit allen Beteiligten wechseln. | |
Dann hätten wir eine eher akademisch orientierte Schule, Typ Gymnasium, und | |
eine stärker projektbezogene Schule, Typ Fachgymnasium. | |
Das kann funktionieren? | |
Absolut. Der Prozess der Integration der Hauptschule in andere Schulformen | |
ist ja in den neuen Bundesländern schon sehr weit und wird zurzeit in den | |
meisten alten Bundesländern bereits eingeleitet, wobei Hamburg und | |
Rheinland-Pfalz die Vorreiter sind. | |
Schulverweigerer berichten immer wieder von Problemen mit Lehrern. | |
Wir müssen sehen, was Lehrer können, und wo ihre Grenzen sind. Lehrer sind | |
keine Sozialarbeiter, keine Psychotherapeuten, sie sind keine Pfleger und | |
keine Mediziner. Wir müssen aufpassen, dass wir sie nicht mit Aufgaben | |
überfordern, die nichts mehr mit Unterrichtsorganisation und | |
Persönlichkeitsentwicklung im überwiegend kognitiven und intellektuellen | |
Bereich zu tun haben. Richtig ist, dass Lehrer schon in der Ausbildung | |
Diagnose- und Förderkompetenzen stärker mit auf den Weg bekommen sollten. | |
Anstatt Lehrer, die im alten Denken verharren, benötigen die Schulen also | |
auch mehr Experten von außen? | |
Lehrerinnen und Lehrer werden im Schulsystem die führende professionelle | |
Gruppe bleiben. Allerdings muss man daneben Menschen stellen, die eine | |
Hilfsfunktion übernehmen und den Lehrkräften zur Hand gehen können, eine | |
Art von "Teaching Assistants". Und zusätzlich andere professionelle | |
Gruppen. Wir haben zu wenig Menschen in der Schule, die administrative | |
Arbeiten und Managementaufgaben übernehmen. Wir haben zu wenig | |
psychologische und sozialpädagogische Fachleute, Pflegekräfte, eventuell | |
auch Ärzte. | |
Besteht die Gefahr, dass die Zahl der Absolventen ohne Abschluss über zehn | |
Prozent steigt? | |
Wenn wir unser Schulsystem nicht reformieren, wird das unvermeidbar so | |
kommen. Die World-Vision-Kinderstudie zeigt, dass schon ein Viertel der | |
Grundschulkinder sich selbst aufgegeben hat, weil diese Kinder den Eindruck | |
haben, ihnen werde keine Chance gegeben. Grundschulkinder! An manchen | |
Hauptschulen hören die Schüler schon in der achten Klasse von ihren | |
Lehrern: "Unsere Abschlussklasse hat sich um Ausbildungsplätze bemüht, aber | |
nur 5 von 90 haben etwas bekommen, die anderen sind leer ausgegangen." Das | |
zerstört natürlich jede Motivation. In den Augen der meisten Eltern ist die | |
Schule nun einmal eine Institution, die ausbildet, damit man später eine | |
berufliche Tätigkeit aufnehmen kann. | |
Welche Folgen haben die konstant hohen Zahlen von scheiternden Schülern für | |
die Gesellschaft? | |
Auf Dauer ist es unerträglich für ein leistungsfähiges Land, ein | |
Schulsystem zu haben, das einen so hohen Anteil von Schülern zu Versagern | |
abstempelt. Die meisten dieser Versager sind heute übrigens männlichen | |
Geschlechts. Das hat weitreichende Konsequenzen für das Selbstwertgefühl | |
dieser jungen Leute. Sie werden destruktiv und richten ihre Aggressionen | |
aus Enttäuschung gegen sich selbst - und selbstverständlich auch gegen die | |
Gesellschaft. | |
Bildungsverlierer sind eine Gefahr für die Gesellschaft? | |
Wenn eine große Gruppe von Menschen mit einem bestimmten sozialen | |
Hintergrund - relativ arme Elternhäuser, relativ niedriger Bildungsgrad der | |
eigenen Eltern und relativ schlechte soziale, sprachliche und kulturelle | |
Integration - so stark benachteiligt wird, dass sie aus der Gesellschaft | |
rausgedrängt wird, wirkt sich das negativ auf alle aus. Man kann auch noch | |
weiter gehen: Die strukturelle Benachteiligung von derzeit rund 20 Prozent | |
eines Jahrgangs gefährdet auf Dauer unsere Demokratie. | |
Inwiefern? | |
Diese jungen Menschen zweifeln daran, dass das politische System Konflikte | |
und Verteilungs- und Machtfragen überhaupt noch regeln kann. Denn sie | |
merken ja selbst täglich, wie schlecht sie in diesem System abschneiden, | |
das für sie "die Gesellschaft" repräsentiert. | |
INTERVIEW: ANNELIE OTTE | |
29 Sep 2008 | |
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Psychologie | |
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