# taz.de -- Afghanistan im Nebel der Statistik: Kaum realistische Einschätzung… | |
> Täglich gibt es in Afghanistan Anschläge, der Krieg geht weiter. Die Nato | |
> und ihre Infomaschine reden die Situation schön. | |
Bild: Der Alltag geht irgendwie weiter: Eine afghanische Familie in Kunar. | |
BERLIN taz | Wie sicher ist Afghanistan? Auf diese Frage gibt es keine | |
eindeutige Antwort. Im Gegenteil: Die Informationen über die Lage in dem | |
Land am Hindukusch sind oft widersprüchlich. Verschiedene Organisationen | |
sammeln ganz unterschiedliche Daten und ziehen daraus ihre jeweils eigenen | |
Schlussfolgerungen. Keiner dieser Datensätze allein ist verlässlich. | |
Nur so viel ist klar: Der Krieg geht weiter. 140.000 Nato- und 352.000 | |
afghanische Soldaten sowie Polizisten haben die Aufständischen nicht | |
schlagen können. | |
Als wichtige Quellen für die Sicherheitslage gelten die von der Nato | |
geführte Schutztruppe Isaf und das Afghanische NGO-Sicherheitsbüro Anso, | |
das seit Jahren im Land arbeitet. Die Isaf-Militärs veröffentlichen nur | |
Daten über sogenannte vom Feind initiierte Attacken auf die eigenen Truppen | |
– aber nicht solche auf die afghanischen Verbündeten. | |
Auf der anderen Seite registriert Anso nur „NGO-relevante“ Zwischenfälle, | |
also zählt alles, was die Arbeit von Nichtregierungsorganisationen | |
beeinflussen kann: Angriffe auf Hilfsprojekte ebenso wie | |
Taliban-Straßensperren – oder wenn US Marines wieder einmal eine | |
NGO-geführte Klinik als zeitweiligen Gefechtsstand übernehmen. Hinzu kommen | |
gewöhnliche Verbrechen, mit denen die Aufständischen nichts zu tun haben. | |
Deutsche Organisationen vor Ort – staatliche, nichtstaatliche und | |
Stiftungen – werden vom Risk Management Office auf dem Laufenden gehalten, | |
finanziert vom deutschen Entwicklungsministerium (BMZ). Die UN-Mission in | |
Afghanistan berichtet jährlich über zivile Opfer des Konflikts. | |
Auch die Unabhängige Menschenrechtskommission Afghanistans (AIHRC), deren | |
Vorsitzende Sima Samar gerade den Alternativen Nobelpreis für ihre Arbeit | |
erhielt, erhebt Daten. Die Kommission unterhält sieben Regionalbüros | |
außerhalb Kabuls. Weil ihr Personal nicht zu allen Regionen Zugang hat, | |
kann sie viele Vorfälle nicht untersuchen, die dann auch nicht in die | |
Statistik eingehen. | |
Fazit: Nur wenn man all diese Angaben unterschiedlichster Herkunft | |
zusammennimmt, nähert man sich einer realistischen Einschätzung. | |
## Abzug 2014 | |
Welche Schlussfolgerungen aus diesen Daten gezogen werden, hängt nicht | |
zuletzt von der Interessenlage der unterschiedlichen Akteure ab. So ist den | |
Mitgliedern der Nato daran gelegen, ein möglichst positives Bild von der | |
Lage zu zeichnen. Grund: Sie will sicherstellen, dass die meisten | |
Kampftruppen im Jahr 2014 aus dem zunehmend unpopulär gewordenen | |
Afghanistaneinsatz abgezogen werden können. Die Transparenz bei Isaf hat | |
zuletzt nachgelassen, mit der Begründung, die afghanische Regierung sei nun | |
zuständig. | |
Allerdings sind auch die Politiker in Kabul weder in der Lage noch willens, | |
systematisch zu informieren. An realistischen Einschätzungen ist ihnen | |
ebenso wenig gelegen. Die renommierte International Crisis Group (ICG) – in | |
deren Vorstand unter anderen Kofi Annan und Joschka Fischer sitzen – warnte | |
am Montag, dass Afghanistan „weit davon entfernt“ sei, „bis 2014 die | |
Sicherheitsverantwortung übernehmen zu können“. | |
Der Regierung drohe der Zusammenbruch, wenn bei der nächsten | |
Präsidentschaftswahl erneute Fälschungen zu einer „Verfassungskrise“ | |
führen. Daraufhin schoss Kabul zurück: Der Bericht sei ein Auftragswerk | |
„ausländischer Geheimdienste“, um die Karsai-Regierung zu unterminieren. | |
## Weniger Taliban-Angriffe | |
Sieht man sich die aktuellsten Statistiken von Anso und Isaf an, könnte man | |
tatsächlich schlussfolgern, die Lage in Afghanistan habe sich gebessert. | |
Anso zufolge sank die Zahl der Taliban-Angriffe im ersten Halbjahr 2012 | |
gegenüber dem gleichen Vorjahreszeitraum um 38 Prozent. | |
Die UNO verzeichnete für den gleichen Zeitraum 22 Prozent weniger zivile | |
Konflikttote, bemerkte aber sogleich, dass die jährliche Sommerkampfsaison | |
noch bevorstehe. US-Verteidigungsminister Leon Panetta behauptet kürzlich | |
sogar, das „Momentum der Taliban“ sei gebrochen. | |
Die Isaf verzeichnete aber in den Sommermonaten nur kaum geringere | |
Taliban-Aktivitäten als im Vorjahr. Sie liegen zwar deutlich unter dem | |
Spitzenjahr 2010, aber ebenso deutlich über dem Niveau aller Jahre davor. | |
Laut Anso gab es 10.114 Taliban-Angriffe in sechs Monaten, das sind 55 pro | |
Tag. Die Taliban sind inzwischen ausnahmslos in allen Provinzen aktiv. Sie | |
bringen fast täglich gezielt Regierungsanhänger um, von Polizisten bis zu | |
Mullahs. Wenn Afghanen über Land fahren, löschen sie alle | |
kompromittierenden Telefonnummern aus ihren Handys. Mitte September drang | |
ein Kommando von Taliban in US-Uniformen und mit abrasierten Bärten in ein | |
Nato-Camp in Südafghanistan ein und schoss acht Kampfjets in Brand. | |
Zudem reicht es nicht, Sicherheit nur militärisch zu definieren. „Die | |
Menschen leiden nicht nur an den Auswirkungen des bewaffneten Konflikts“, | |
unterstrich am Montag der scheidende Leiter des Internationalen Roten | |
Kreuzes in Kabul, Reto Stocker. „Ihre Leiden infolge der Wirtschaftslage, | |
von Wetter- und Naturkatastrophen haben zugenommen, und die | |
Zukunftshoffnungen sind stetig gesunken.“ | |
11 Oct 2012 | |
## AUTOREN | |
Thomas Ruttig | |
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Isaf | |
Schwerpunkt Afghanistan | |
Fußball | |
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