# taz.de -- Sammlungen menschlicher Skelette: Aus Knochen werden Vorfahren | |
> In europäischen Museen liegen menschliche Überreste, die unter ethisch | |
> nicht vertretbaren Umständen gesammelt wurden. Wem gehören die Knochen? | |
Bild: Ausgestellt in der Berliner Charité: Der Schädel eines Herero aus Namib… | |
BERLIN taz | Um nicht noch einmal in eine solche Situation zu geraten wie | |
vor einem Jahr, haben Wissenschaftler der Berliner Charité am Zentrum für | |
Anatomie Anfang Oktober einen interdisziplinären Workshop veranstaltet. Der | |
Titel: „Sammeln und Bewahren, Erforschen und Zurückgeben – Human Remains | |
(menschliche Überreste) aus der Kolonialzeit in akademischen und musealen | |
Sammlungen“. | |
Tatsächlich ist es schon ein Jahr her, dass Cornelia Pieper (FDP), | |
Staatssekretärin im Auswärtigen Amt, in einem Charité-Hörsaal einen | |
diplomatischen Eklat verursachte. Als Zuschauer sie ausbuhten, lief sie | |
mitten in einer Feier panisch aus den Räumlichkeiten der altehrwürdigen | |
medizinischen Institution. | |
Aus deren anthropologischer Skelettsammlung wurden dort gerade an eine | |
namibische Delegation aus Regierungsmitgliedern und Würdenträgern 20 | |
Schädel von Herero und Nama zurückgegeben. Opfer eines zwischen 1904 und | |
1908 von Deutschland als dem Kolonialherren Deutsch-Südwestafrikas | |
begangenen Genozids. Auch die Delegationsmitglieder fühlten sich brüskiert, | |
denn sie hatten von der Vertreterin der deutschen Regierung eigentlich eine | |
Bitte um Verzeihung erwartet. | |
Die Charité-Wissenschaftler hatten im Rahmen eines von der DFG finanzierten | |
Human-Remains-Projekts mit der Sichtung ihrer Bestände begonnen und die | |
Rückgabe initiiert. Bei Kontaktaufnahme mit der namibischen Seite und | |
erneut während der Zeremonie entschuldigten sie sich für ihre Vorgänger, | |
welche sich einst unter fragwürdigen Umständen dieser Schädel bemächtigten. | |
„Wir saßen dort im Raum und haben erst mal realisieren müssen, dass wir | |
nicht die gewünschten Verhandlungspartner waren“, berichtet Thomas | |
Schnalke, Direktor des Medizinhistorischen Museums der Charité. Auf der | |
gegenwärtigen Konferenz – organisiert immer noch im Rahmen desselben | |
Human-Remains-Projekts – ging es nicht zuletzt um ein Rollenmodell für | |
solche Übergaben. | |
## Schädel im Schrank | |
Denn in Berlin hat man noch etwa 7.000 Schädel in den Schränken und ist | |
damit nicht allein. In Europa quellen Museen, anthropologische Sammlungen | |
und Kliniken von Bestandteilen toter Körper über. Deren zunehmend ethisch | |
umgetriebenen VerwalterInnen stellen die Frage: Gehören die uns überhaupt? | |
Parallel dazu wächst bei den BewohnerInnen ehemaliger Kolonien der Wunsch, | |
die oft grausam entwendeten Gebeine der eigenen Ahnen zurückzuerhalten. | |
Aber: Sind sie es überhaupt noch? Das erste Wort haben deshalb immer | |
Provenienzforscher. Sie versuchen festzustellen, woher Gebeine stammen, im | |
optimalen Falle, von welchem Individuum. | |
Bei den oben erwähnten 20 Herero- und Nama-Schädeln ließ sich nur die | |
Herkunft nachweisen, die aber fast zweifelsfrei – dank deutscher | |
Gründlichkeit. Denn die Berliner Forscher zu Beginn des 20. Jahrhunderts | |
haben ihr „Material“ – meist gedacht für Rassenforschung – in | |
anthropologischen Fachzeitschriften genau beschrieben. Unzweifelhaft kamen | |
die meisten dieser Schädel aus Namibia, aus dem Konzentrationslager dort in | |
der Lüderitzbucht, dessen katastrophale Haftbedingungen von rund 2.000 | |
internierten Nama nur etwa 450 Personen überlebten. | |
## Der Unrechtskontext | |
Rückgabe oder nicht? – Diese Frage entscheidet für deutsche | |
Museumsfachleute heute wie ein Lackmustest das Vorhandensein eines | |
sogenannten Unrechtskontexts. Sobald man erfährt, dass „Human Remains“ | |
durch Krieg oder Mord erbeutet, in Internierungslagern „gesammelt“ oder aus | |
Gräbern geraubt wurden, sollte man sie – so lautet der inoffizielle Konsens | |
– möglichst selbst zur Rückgabe anbieten. | |
Nach der Rückkehr in ihre Heimatländer beginnen die menschlichen Exponate | |
in der Regel ein drittes Leben, von dem man in den Instituten und Museen, | |
denen sie nun entflohen sind, wenig ahnt. Selten werden sie sofort | |
beerdigt. Meist nehmen sie den Weg in die Politik. | |
Den Empfang der Herero- und Nama-Schädel aus Berlin in Windhoek beschrieb | |
die Kölner Historikerin Larissa Förster: „Alle dort empfanden die Rückkehr | |
als einzigartigen historischen Moment. Eine Zeitung brachte eine acht | |
Seiten lange Sonderbeilage. Mehrere tausend Namibier stürmten das Rollfeld | |
und vollführen kleine Rituale, tanzten und beteten. Alle Sprachen des | |
Landes waren zu hören – nur das Deutsche war etwas schwach vertreten.“ | |
## Trend zur „Rehumanisierung“ | |
In jenen Tagen seien neue Embleme und Popsongs entstanden. Für die | |
verschiedenen ethnischen Gruppen in Namibia sei dies ein Schritt zur | |
Herausbildung einer gemeinsamen Nation gewesen, meint sie: Die Verstorbenen | |
würden nun als gemeinsame Vorkämpfer für die Freiheit verehrt. Dieser Trend | |
zur „Rehumanisierung“ setzt sich gerade weltweit durch. Zurückgebende und | |
empfangende Seiten bemühen sich, hinter Gebeinen wieder Persönlichkeiten zu | |
erblicken. | |
So lange die Repatriierungswelle rollt, haben die westlichen Länder und | |
ihre Verhandlungspartner aus der einstigen und jetzigen dritten Welt eine | |
neue Chance, sich in Augenhöhe zu begegnen. Ideen dazu entwickelte man in | |
der Abschlussdiskussion des Berliner Workshops. | |
Europäische Kuratoren könnten mit der Forschung in den Ursprungsländern | |
ihrer Sammlungen kooperieren, viel über deren kulturellen und historischen | |
Kontext einzelner Exponate erfahren und vielleicht dieses Wissen sogar | |
ihren Besuchern vermitteln. | |
In der Südafrikanischen Botschaft in Wien formulierte dies in diesem Jahr | |
ein polyglotter Geistheiler, Petrus Vaalbooi, selbst aus dem Volke der San, | |
dem vermutlich ältesten Südafrikas. Er vollführte dort eine | |
Reinigungszeremonie für die von Österreich zurückgegebenen Gebeine des aus | |
seiner Heimat stammenden Ehepaars Klaas und Trooi Pienaar und sagte | |
hinterher: „Die Pienaars haben eine Brücke zwischen Südafrika und | |
Österreich gebaut. Jetzt liegt es an den Bewohnern beider Seiten, diese | |
Brücke zu ersteigen und aufeinander zuzugehen.“ | |
19 Oct 2012 | |
## AUTOREN | |
Barbara Kerneck | |
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