Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Die Wahrheit: Das Glied unterm Baum
> Peer Steinbrück warnt ständig davor, dass uns die Regierung hinter die
> Fichte führt. Aber was ist dort so schlimm? Ein grausige Entdeckung
Bild: Da steht tatsächlich eine CDU-Tasse: Schrank in einer Kaffeeküche der t…
Es gibt einen neuen gefährlichen Ort im deutschen Sprachwald: hinter der
Fichte. Dorthin werden die Massen geführt, mahnt unermüdlich der
Kanzlerkandidat der SPD, Peer Steinbrück. Erst warnte er bei einer
Bundestagsdebatte, die Sozialdemokraten würden die Koalition in der
Eurokrise nicht mehr unterstützen, [1][falls Angela Merkel die Opposition
weiter „hinter die Fichte“ führen] wolle. Und weil Merkel sich nicht
beirren ließ, tönte Steinbrück als nächstes: „Der Schleiertanz, den die
Bundesregierung bisher vorgeführt hat, täuscht die Menschen. [2][Wir sind
hinter die Fichte geführt worden.]“
Unter ihm als Kanzler, so viel ist sicher, wird sich so etwas nicht
wiederholen. Denn in einem [3][Interview mit der Welt] erklärte Steinbrück,
die SPD wolle „niemand hinter die Fichte führen“. Dann wieder betonte er
[4][bei einem Treffen mit den Jusos], „man müsse niemanden hinter die
Fichte führen“. Ganz egal, was aus Steinbrücks Kanzlerkandidatur wird,
schon jetzt steht fest, er hat die Fichte zurück aufs politische Parkett
geholt.
Zwar ist die Baumwarnung nicht ganz neu. So warf Jürgen Trittin [5][im Jahr
2009] einem heute längst vergessenen Arbeitsminister namens Franz Josef
Jung (CDU) vor: „Sie haben nicht nur die Unwahrheit gesagt. Sie haben uns
hinter die Fichte geführt. Und das gehört sich nicht in der Demokratie.“
Und Guido Westerwelle (FDP) freute sich gar schon 1999, als in Hessen die
damalige rot-grüne Landesregierung abgewählt worden war: „Die neue Mitte
wollte sich in Hessen nicht zum zweiten Mal hinter die Fichte führen
lassen.“
Doch während man im letzten Jahrzehnt oft Jahre auf einen neuen
Fichtenvergleich warten musste, wird nun fast schon im Wochenrhythmus vor
der Gefahr im dichten Nadelgehölz gewarnt. Mal rügt der
SPD-Fraktionsvorsitzende Frank-Walter Steinmeier, „die Bevölkerung“ werde
„hinter die Fichte geführt“, weil die Bundesregierung Wahlgeschenke
ausgelegt habe. Mal [6][erregt sich Renate Künast], der man als Obergrüne
eine gewisse Waldkenntnis zusprechen möchte: „Lange Zeit hat Klaus Wowereit
Berlin systematisch hinter die Fichte geführt.“
Die Frage aber bleibt: Was sollen wir alle da? Hinter der Fichte? Vom
Standpunkt des Biologen gesehen, gibt es nur eine Antwort: nichts. Zwar
schießt der zu den Kiefergewächsen zählende Flachwurzler bis zu 40, in
seltenen Fällen gar bis zu 70 Meter in die Höhe. Doch hinter dem gewöhnlich
nicht mehr als zwei Meter dicken Stamm ist einfach kaum Platz für einen
längeren Aufenthalt. Nicht für „Berlin“, nicht für „die neue Mitte“,…
schon gar nicht für die gesamte „Bevölkerung“.
Aufschlussreicher ist da ein Blick in die Klassiker der deutschen
Sprachforschung. Schon Wilhelm Körte listete in seinem 1837 erschienen
lexikalischen Werk „Die Sprichwörter und sprichwörtlichen Redensarten der
Deutschen. Nebst den Redensarten deutscher Zech-Brüder“ [7][die
Formulierung „Einen hinter die Fichten führen“] auf. Laut Körte ist sie e…
Synonym für den Begriff „anführen“, aber auch für „berücken“. Sollt…
Plätzchen hinterm Nadelbaum also der passende Ort für ein Schäferstündchen
sein?
Das zumindest schließen auch die Brüder Jacob und Wilhelm Grimm nicht aus,
die nicht nur als Märchensammler berühmt wurden, sondern als Sprachforscher
das nach ihrem Tod auf 33 Bände angewachsene [8][„Deutsche Wörterbuch“]
herausgaben. Allerdings lassen die Brüder Grimm im 1862 erschienenen
[9][dritten Band des Wörterbuchs] keinen Zweifel, dass die verführerische
Erotik hinter der Fichte stets mit einer gehörigen Prise Betrug verbunden
ist.
Dafür führen sie mehrere, damals schon Jahrhunderte alte Quellen für den
Gebrauch der Fichtenphrase an. So zitieren sie etwa aus den 1563 von dem
Pfarrer Johannes Mathesius verfassten „15 Hochzeitpredigten – Vom Ehestand
unnd Haußwesen“ den Satz: „wie der Dalila lippen, die süszer waren denn
hönigsam, den thewren held Simson umb die fichte füret.“
Hierbei handelt es sich um die freie Wiedergabe der Geschichte vom teuren
Helden Samson und seiner Delila, die schon im Alten Testament der Bibel –
[10][Kapitel 16 des Buches Richter] – Erwähnung findet. Zwar fehlt im
Original die Fichte. Doch der Tenor ist klar. Delila bezirzt den starken
Samson so lange, bis er ihr das Geheimnis seiner Verletzbarkeit verrät, was
das listige Weib umgehend für „tausendundhundert Silberlinge“ an die
Philister verhökert. Die ergreifen ihn und stechen ihm die Augen aus.
Es handle sich um „ein altes, seinem ursprung nach dunkles sprichwort“ für
„betriegen“, fassen die Grimms zusammen. Nur „was die fichte besonders
dabei zu schaffen hat,“, das wussten selbst sie nicht. Das „müste uns erst
eine volkssage erklären“.
Auf eine solche Volkssage wies Johann Christoph Adelung hin, der unter
Germanisten als bedeutendster deutscher Sprachgelehrter vor den Grimms
gilt. Sein 1811 verfasstes „Grammatisch-kritisches Wörterbuch der
Hochdeutschen Mundart“ [11][führt die Redensart auf]. Adelung erläutert,
schon an andere Stelle werde „diese figürliche R. A. auf eine seltsame Art
aus der Liebesgeschichte des Atys mit der Cybele erkläret, nach welcher der
erstere von dem Jupiter aus Eifersucht seiner Mannheit beraubet worden,
welches denn hinter einer Fichte geschehen seyn soll“.
Um dieses Drama in seiner Gänze zu verstehen, muss man tief in die
griechische Mythologie eintauchen. Da soll Obergott Zeus seinen Samen – je
nach Quellenlage – auf die Erde oder auf einen Felsen, den er für die Große
Göttermutter Kybele gehalten hatte, fallen gelassen haben. So oder so
entstand aus dem Samen der Hermaphrodit Agdistis, dem die Götter aber aus
Furcht den Penis abschnitten.
Aus dem begrabenen Geschlechtsteil wiederum erwuchs ein Mandelbaum, von dem
eine Frucht zwischen die Brüste der Flussnymphe Nana fiel, die darob
schwanger wurde und den späteren Schönling Atys oder Attis gebar. Als der
wiederum heiraten wollte, wurde Kybele dermaßen eifersüchtig, dass sie den
schönen Herrn in den Wahnsinn trieb, woraufhin er sich selbst entmannte und
starb. Und zwar hinter einer Fichte!
[12][Laut anderen Quellen] soll er sich zwar in eine Pinie verwandelt
haben. Aber Pinien und Fichten gehören beide zu den Kiefergewächsen. Es
könnte sich um einen Übersetzungsfehler handeln. Einer dritten Variante
zufolge begrub Kybele das Glied des Geliebten, aus dem dann Veilchen
wuchsen, mit denen fürderhin jährlich die Fichte bekränzt wurde.
Genaueres soll der römische Dichter Ovid zu Zeiten des Kaisers Augustus im
vierten Buch seines Festkalenders [13][„Fasti“] festgehalten haben. Aber um
das zu verstehen, müsste man sein Latein auffrischen. Und das würde für die
Interpretation zeitgenössischer politischer Sprachhülsen dann doch zu weit
führen.
Zumal die Brüder Grimm gut 50 Jahre nach Adelung ohne weitere Begründung
erklärten: „der mythos von Atys und Kybele kann nicht in betracht kommen.“
Und auch Adelung selbst hatte Zweifel, allerdings mehr an der Verortung der
Gefahr hinter der Fichte, da „die Nahmen Fichte, Tanne, Kiefer, Kienbaum,
Fohre u. s. f. nicht nur im gemeinen Leben, sondern auch in Schriften sehr
häufig mit einander verwechselt werden“.
Dennoch lässt sich zusammenfassend festhalten: Hinter den Fichten liegt
zweifelsohne ein gefährlicher Ort. Wer sich dorthin führen lässt, dem
drohen wenn nicht Inzest, Kastration und Tod, so doch mindestens gemeiner
Betrug und Verrat. Ein Politiker, der seine Wähler vor solch Unbill im
dunklen Wald bewahrt, ist jeder Rede wert. Wenigstens das wird man dereinst
Peer Steinbrück hoch anrechnen müssen.
21 Jan 2013
## LINKS
[1] http://www.spdfraktion.de/themen/ihre-st%C3%BCmperei-muss-aufh%C3%B6ren
[2] /1/archiv/archiv/
[3] http://www.spd.de/aktuelles/77656/20121005_steinbrueck_interview_die_welt.h…
[4] http://www.tagesspiegel.de/politik/auftritt-des-spd-kanzlerkandidaten-kein-…
[5] http://www.tagesspiegel.de/politik/deutschland/fall-kundus-jung-will-nicht-…
[6] http://www.spiegel.de/politik/deutschland/wowereit-wegen-flughafen-chaos-au…
[7] http://books.google.de/books?id=k-vTAAAAMAAJ&pg=PA101&lpg=PA101&amp…
[8] http://dwb.uni-trier.de/de/das-woerterbuch/das-dwb/
[9] http://woerterbuchnetz.de/DWB/?sigle=DWB&mode=Vernetzung&lemid=GF04…
[10] http://bibel-online.net/buch/luther_1912/richter/16/
[11] http://lexika.digitale-sammlungen.de/adelung/lemma/bsb00009132_1_1_1268
[12] http://books.google.de/books?id=c1UmQtFczT0C&pg=PA164&dq=hugo+hepd…
[13] http://www.thelatinlibrary.com/ovid/ovid.fasti4.shtml
## AUTOREN
Gereon Asmuth
Gereon Asmuth
## TAGS
Friedrich Merz
Verschwörungsmythen und Corona
## ARTIKEL ZUM THEMA
Alle Tassen im Schrank: Heraus zum Ersten Merz
Merz’ „Tassen-im-Schrank“-Politik ist der Aufreger online. Nun werden
Tassen für den kommenden Kanzler gesammelt. Wo kommt eigentlich der Spruch
her?
Die Wahrheit: War Adolf Hitler Moslem?
Wie der Tweet eines islamophoben Verschwörungstheoretikers dazu führt, ein
genau achtzig Jahre altes Geheimnis zu enthüllen.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.