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# taz.de -- Jung und schwul in der Provinz: Allein unter Heteros
> Wer als Schwuler nicht in der Großstadt aufwächst, hat es schwer. Die
> Provinz ist nun mal konservativ und intolerant. Stimmt das? Noch immer?
> Ein Besuch.
Bild: Hach! So schön kann die Eifel sein. Auch wenn man schwul ist?
Wahrscheinlich wäre Marco auch abgehauen, wenn er nicht schwul wäre. Warum
hätte er auch bleiben sollen, seine Heimat war zu klein, zu langweilig für
einen Mann in seinem Alter: Wittlich, eine Kleinstadt in der Eifel, 19.000
Einwohner, es gibt viele Arbeitsplätze, viel Industrie, aber die Stadt döst
vor sich hin.
Nachts sind die Straßen verlassen, die Kneipen leer, das einzige Kino wurde
vor Jahren geschlossen. Wer jung ist, zieht weg von hier, Studium in Mainz,
Köln, Heidelberg, ein Freiwilliges Soziales Jahr im Ausland vielleicht.
Hauptsache, weg aus der Provinz. Marco ging nach dem Abitur zum Zivildienst
nach Saarbrücken, Anfang der Neunziger war das.
„Ich musste in eine größere Stadt“, sagt er, „um so leben zu können, w…
ich wollte.“ Marco ist 39, er sitzt vor einem Restaurant in der Berliner
Oranienstraße. Die Sonne scheint, Autos fahren vorbei, es riecht nach
Gewürzen und frisch gebackenem Teig, die Straße ist voller Restaurants,
indisch, türkisch, chinesisch, und gleich um die Ecke: das Roses und das
SO36, beliebte Treffpunkte in der Berliner Schwulenszene. Hier ist man
multikulturell und tolerant. Ganz anders als damals in Wittlich, sagt
Marco. „Ich fand die Stadt konservativ und kleinbürgerlich.“
Wer ihn nicht kennt, käme nie auf die Idee, dass Marco schwul sein könnte.
Keine nasale Stimme, keine abgeknickten Handgelenke. Schwule Klischees
sucht man an ihm vergeblich. Er trägt Acht-Tage-Bart und grinst
selbstbewusst. Vielleicht hat ihm sein Auftreten geholfen, als er in den
Achtziger- und Neunzigerjahren aufwuchs. Wittlich war damals eine Stadt, in
der es Homosexualität nicht gab. Man kannte keine Schwulen, man sprach
nicht über sie. „Das Thema fand einfach nicht statt. Homosexualität war in
Wittlich etwas Fremdes, die Leute hatten Angst davor.“
Als Jugendlicher kann Marco mit niemandem über seine Gefühle sprechen. „Ich
wollte nicht auffallen. Ich habe gedacht, das ist was Verbotenes,
Ungewöhnliches, Unnormales.“ Marco ist allein unter Heteros, falsch gepolt.
Er schämt sich dafür.
Mit viel Mühe sucht er sich zusammen, was er in den Medien über
Homosexualität findet. Am Bahnhofskiosk und an Tankstellen kauft er
Schwulenmagazine, Du und Ich zum Beispiel, manchmal lässt er sich die
Magazine auch zuschicken. Einmal findet er in einer Buchhandlung ein Buch
über Schwule. Mit klopfendem Herzen geht er zur Verkäuferin, bezahlt es –
und lässt es als Geschenk verpacken.
## Heimlich Magazine kaufen
Niemand darf wissen, dass er so etwas liest. Ab und zu schreibt auch die
Bravo über das Thema. So klaubt Marco all die Informationen zusammen, die
man heute in Sekundenbruchteilen findet, wenn man „schwul“ bei Google
eingibt. Er findet heraus, wie Schwule Sex haben, dass Schwule auch in
Beziehungen leben – und dass es eine schwule Welt gibt jenseits seiner
kleinen Heimatstadt.
„Alles steht und fällt mit Gleichgesinnten, und die gab es in Wittlich
nicht. Es war ein befreiendes Gefühl, als ich wegzog.“ 1992 ist Marco 19
und hat gerade Abitur gemacht. Für einen Jungen aus der Eifel ist
Saarbrücken die große weite Welt. Dort lernt Marco andere Schwule kennen,
Menschen, die ihn verstehen und vor denen er sich nicht verstellen muss.
Dass er ausgerechnet in Wittlich diese Erfahrungen gemacht hat, ist Zufall,
das weiß er. Es gibt viele wie ihn. „Wittlich ist beispielhaft für sehr
viele Provinzstädte. Du findest die gleichen Lebensläufe von Männern aus
dem tiefsten Niedersachsen oder dem Bayerischen Wald.“
Ist es denn heute einfacher in Provinz? Marco überlegt, denkt an die kleine
Stadt, in die er heute noch ab und zu fährt, um seine Mutter zu besuchen.
„Wittlich ist immer noch konservativ. Aber heute gibt es schwule
Schauspieler, Models, Politiker.“ Also: Geht das heute, jung und offen
schwul in der Provinz?
Trier, eine halbe Autostunde von Wittlich entfernt. Patrick und Christian
sitzen im Schmit-z, einem der wenigen Homo-Treffpunkte in der Region. Es
ist ein Sonntagnachmittag, wie jede Woche hat das Schmit-z zu Kaffee und
Kuchen eingeladen, vor der kleinen Bar sitzen Schwule und Lesben und
unterhalten sich. Seit 17 Jahren kämpfen sie hier um Toleranz, veranstalten
Partys und Infoabende, neulich war sogar der Trierer Bischof Stephan
Ackermann da. Das Schmit-z hatte ihn eingeladen, um mit ihm über
Homosexualität und Kirche zu sprechen.
Patrick und Christian haben sich in die kleine Bibliothek zurückgezogen. In
den Regalen steht schwul-lesbische Literatur, die beiden trinken Kaffee und
hocken auf Sitzpolstern, die leuchten und die Farbe wechseln, wenn man ein
Kabel in die Steckdose steckt. Schöne neue Welt. Seit August sind sie ein
Paar. Patrick ist 18, Gymnasiast, blondes Haar, übereinander geschlagene
Beine. Christian ist 19, Auszubildender, dunkles Haar, sitzt breitbeinig.
Die beiden heißen eigentlich anders, ihre richtigen Namen sollen aber nicht
in der Zeitung stehen – aus Sicherheitsgründen, sagen sie, nicht etwa, weil
sie sich schämen. Patrick und Christian haben sich geoutet – und sie wohnen
in Wittlich. Also, wie ist das so?
„Die Menschen reagieren unterschiedlich“, sagt Patrick. „Toleranz und
Intoleranz halten sich fast die Waage, im Verhältnis 60 zu 40 vielleicht.
Die Toleranz gewinnt aber langsam die Oberhand.“
## Den Intoleranten aus dem Weg gehen? Unmöglich
Ungleichzeitigkeiten prägen die Provinz. Im einen Moment ist sie schützend
und tolerant, im anderen homophob und voller Unverständnis. „Es kommt halt
drauf an, in welchem Umfeld man sich bewegt“, sagt Christian. Die Freunde,
die Nachbarn, fast alle Mitschüler an Patricks Gymnasium stehen hinter
ihnen. Doch es gibt auch die intoleranten Menschen – die Alten, die
tiefreligiösen Migranten, die Deutschen, die ihre eigene Homosexualität
verleugnen. In einer Kleinstadt wie Wittlich ist es unmöglich, diesen
Menschen aus dem Weg zu gehen.
Patrick und Christian fühlen sich dort trotzdem wohl. „Wittlich hinkt
hinterher“, sagt Christian, „aber es ist auf einem guten Weg.“ Patrick
berührt seine Hand, eine zärtliche Geste, ganz kurz, fast zufällig. Wüsste
man nicht, dass die beiden ein Paar sind, hätte man es gar nicht bemerkt.
Unauffälligkeit ist immer noch wichtig. Patrick und Christian würden nie
händchenhaltend durch die Stadt gehen.
Das schwule Leben findet in geschützten Räumen statt, hier im Schmit-z zum
Beispiel oder im Internet. Dort trifft sich ein Großteil der schwulen
Jugendlichen in Netzwerken wie gayromeo und dbna, auch Patrick und
Christian haben sich beim Chatten kennen gelernt. „Ohne Internet“, sagt
Christian, „bist du als Homosexueller nicht homosexuell.“ Die junge
Schwulenszene ist online. Wer keinen Account hat, gehört nicht dazu.
Das Schmit-z, das Internet, die toleranten Mitschüler – all das gab es
nicht, als Marco noch in Wittlich lebte. Es hat sich etwas getan in der
Provinz. Auch wenn die Angst vor Anfeindung bleibt: Jung und offen schwul,
das geht heute.
Das sagt auch die Psychologin Melanie Steffens. Sie hat einige Zeit in
Trier gelebt und forscht heute an der Universität Jena unter anderem über
die Einstellungen zu Schwulen und Lesben. „Das gesamtgesellschaftliche
Klima hat sich verändert“, erklärt sie. „Heute wissen viel mehr Menschen
als früher, dass sie Homosexuelle in ihrem Bekanntenkreis haben – und je
mehr Kontakt jemand zu Homosexuellen hat, desto weniger neigt er zu
Homophobie.“
Auch dass sich junge Menschen outen, sei ein neues Phänomen: „Das ist
vielleicht in den letzten zwanzig Jahren aufgekommen und hat viel mit dem
Schulklima zu tun: SchülerInnen und LehrerInnen legen viel Wert auf ein von
Toleranz geprägtes Klima.“ Und wie reagieren die Eltern, wenn ihre Kinder
sich outen? „Oft positiver als befürchtet. Aber im Einzelfall ist das
schwer vorhersagbar. Die Bandbreite der Reaktionen reicht vom Rauswurf bis
zu einem ’Na, wenn’s weiter nichts ist‘.“
Wittlich, davon kann man ausgehen, wird nie so tolerant werden wie die
Großstädte Berlin oder Saarbrücken. Aber es wird sich weiter verändern,
sich weiter öffnen, auch wenn es dauert. Manche behaupten, die Zeit in der
Provinz sei stehen geblieben, doch das stimmt nicht. Sie tickt nur etwas
langsamer als in der Großstadt.
3 Feb 2013
## AUTOREN
Sebastian Gubernator
## TAGS
Homosexualität
Provinz
Outing
Toleranz
Church of England
Ausgrenzung
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