# taz.de -- Leben im Kibbuz: Die Mutter aller Sünden | |
> Ein fiktiver Kibbuz und ein realer Schriftsteller: Ein Besuch bei Amos Oz | |
> in Tel Aviv und ein Gespräch über die „kühnste Revolution des 20. | |
> Jahrhunderts“. | |
Bild: Als Jugendlicher zog er in einen Kibbuz: der israelische Schriftsteller A… | |
Morgens um sechs, bevor sie auf das Feld gehen, treffen sich alle | |
Kibbuzbewohner für einen frühen Kaffee im Speisesaal. Amos Oz schließt | |
beide Hände um eine imaginäre Tasse, während er erzählt. Ein Kibbuznik | |
verteilt die Zeitung. Dann wird debattiert. Das sind Momente, die der Autor | |
aus seiner Zeit im Kibbuz Hulda vermisst. | |
Inzwischen wohnt der 72-Jährige in der Wüstenstadt Arad, für die | |
Wochenenden hat er ein Apartment in Tel Aviv. Das besteht vor allem aus | |
Sicht und Büchern. Der Blick aus dem 12. Stock auf die hedonistische weiße | |
Stadt und das Meer lassen das Schicksal dieses Landstrichs für einen Moment | |
vergessen. | |
Ein von Büchern umgebenes Aquarium brummt vor sich hin. Es ist neun Uhr | |
morgens. Oz blinzelt neugierig, er ist schon seit vier Stunden auf. Den | |
Arbeitsrhythmus des Kibbuz hat er beibehalten. | |
„Unter Freunden“ ist eine Sammlung kurzer Geschichten über einzelne | |
Bewohner des fiktiven Kibbuz Jikhat. Der ironische Beiklang, den der | |
hebräische Titel „Bejn Chaverim“ hat, geht in der Übersetzung verloren. | |
Denn Genossen sind sie alle, aber wirkliche Freunde gibt es nur sehr | |
wenige. | |
## Araber und Holocaust | |
Der Gärtner Zvi hat gar keine. Dafür kann er die schlechten Nachrichten | |
immer als Erster auswendig. Entsprechend düster fallen seine | |
Zukunftsprognosen aus: „Wenn wir verlieren, werden die Araber kommen und | |
uns auslöschen. Wenn wir gewinnen, werden die Russen kommen und uns in die | |
Luft sprengen.“ | |
So viel Pessimismus klingt komisch. Doch Oz wird ernst, wenn man ihn darauf | |
anspricht. Araber und Holocaust – kein israelischer Text könne ohne diese | |
beiden Themen auskommen. Auch in „Unter Freunden“ sind sie der doppelte | |
Boden, auf dem dieses Land gebaut ist. Ohne weiteren Kommentar spielen die | |
Kinder „Araber“. Und als Jotam in den Ruinen eines von der israelischen | |
Armee zerstörten palästinensischen Dorfes herumstreunt, riecht er noch | |
immer den Rauch von 1948. | |
Die Welt, um die es Oz hier geht, ist der Kibbuz. Durch den Balzac’schen | |
Trick, Protagonisten aus einer Geschichte in den anderen Kapiteln je als | |
Nebenfiguren auftreten zu lassen, entsteht das Bild einer geschlossenen | |
Gesellschaft. Wiederholungen kleiner Details, Zahnlücken oder | |
Lieblingssätze, lassen diese Welt realistisch und die Sprache mündlich | |
wirken. | |
Oz erzählt nichts und alles. Jemand stirbt, jemand trennt sich, jemand geht | |
nach Amerika, jemand besucht jemand anderen. Aber niemand traut sich, dem | |
anderen wirklich zu begegnen. Das Buch hätte auch „Almost touching“ heißen | |
können, sagt der Autor deshalb wohlüberlegt und langsam auf Englisch und | |
erinnert an das Bild von Michelangelo, auf dem Gott den Finger Adams fast | |
berührt. Aber eben nur fast. | |
## Er traut sich nicht zu klopfen | |
Der Spaßvogel Roni darf sein Kind nicht knuddeln, weil seine Frau und deren | |
Ideologie es ihm verbieten. Mosche, ein sephardischer Oberschüler, kann | |
sich seinem Vater nicht mitteilen, weil dieser seinen eigenen Sohn nicht | |
mehr erkennt. Und Joav, der Sekretär, traut sich nicht, bei der grünäugigen | |
Nina zu klopfen. Also steht er die halbe Nacht vor ihrem Fenster und | |
zögert. | |
Oz hat selbst dreißig Jahre lang in einem wirtschaftlichen und sozialen | |
Kollektiv gelebt, in dem jeder zu viel über jeden weiß, in dem aber auch | |
jeder teilt und hilft. In seinem Meisterwerk „Eine Geschichte von Liebe und | |
Finsternis“ erzählt er davon, Romane wie „Mein Michael“ oder „Der perf… | |
Frieden“ sind ebenfalls aus dieser Erfahrung entstanden. Vor 26 Jahren hat | |
er Hulda verlassen, aber die Erinnerungen an diese Zeit kommen in seinen | |
Träumen fast wöchentlich zurück. | |
In „Unter Freunden“ will Oz weder mit dem Kibbuzleben abrechnen noch es | |
nostalgisch verklären. Das fiktive Jikhat ist ein typischer Kibbuz der | |
1950er Jahre, in denen die Regeln noch um einiges strenger waren als in den | |
heutigen Varianten. | |
Die grünäugige Nina fasst ihre Kritik einmal so zusammen: „Die Veteranen | |
aus der Gründergeneration haben sich eine neue Religion geschaffen, voller | |
Verbote und Gebote. Marx ist ihr Talmud, die Vollversammlung ist ihre | |
Synagoge, und David Dagan ist der Rabbiner.“ | |
## Intimität bedroht das Kollektiv | |
Jede Gesellschaft hat ihre David Dagans: einflussreiche Konservative, die | |
unmenschliche Gesetze durchboxen und trotzdem Erfolg bei Frauen haben. So | |
wachsen Kinder in Jikhat getrennt von ihren Eltern in einem Kinderhaus auf. | |
Denn Intimität bedroht das Kollektiv und privates Eigentum ist überhaupt | |
die Mutter aller Sünden, so erfährt der Leser von Martin, einem Schuhmacher | |
und Esperanto-Lehrer. | |
Martin hofft auf eine Welt, in der die Menschen sich verstehen wie vor dem | |
Turmbau zu Babel, und in der es keine Grenzen mehr zwischen den Nationen | |
gibt. Die Gründergeneration hatte zionistische und sozialistische Ideale. | |
Es gilt die Marx’sche Devise: nach Möglichkeiten geben und gemäß | |
Bedürfnissen erhalten. | |
Für den Schüler Mosche klingt Marx allerdings so, als stehe hinter jedem | |
Satz ein Ausrufezeichen. Im Gegensatz zur Kolchose leben die Kibbuzniks | |
freiwillig in der solidarischen Gemeinschaft. Die Pioniere, die 1910 aus | |
Weißrussland nach Palästina zogen, um das Gelobte Land umzugraben, waren | |
Intellektuelle, die sich bewusst für dieses Leben entschieden haben. | |
Oz bezeichnet die Kibbuzbewegung als die „kühnste Revolution des 20. | |
Jahrhunderts“. Ihre Gründer wollten nicht nur das System oder die Politik | |
ändern, sondern die Natur des Menschen selbst. Das konnte nicht gelingen. | |
Aber sie haben es versucht. Körperliche Arbeit hilft, den Charakter zu | |
bilden, davon ist der Autor bis heute überzeugt. | |
## 280 Kibbuzim in Isreal | |
Die zionistische Konnotation sei – seit der Staat Israel real existiert – | |
überholt. Kibbuzim gibt es heute auf der ganzen Welt und in allen | |
Variationen. Die meisten sind reformiert, das heißt, die Bewohner arbeiten | |
auch außerhalb, kochen für sich selbst und wirtschaften bis zu einem | |
bestimmten Maß sogar privat. | |
In Israel existieren momentan um die 280 Kibbuzim von je etwa 500 Personen. | |
Wenn ein Charakter wie Jotam entscheidet, in Italien zu studieren, dann | |
kann er das ohne Weiteres tun. In „Unter Freunden“ muss er den Beschluss | |
des Ausschusses abwarten, sodass sich das demokratische Prinzip in seinem | |
Fall in eine bedrohliche Diktatur der Mehrheit verwandelt. | |
Martin vergegenwärtigt das Andererseits: Der Esperanto-Lehrer, der im | |
Holocaust seine gesamte Familie verlor, wäre in Tel Aviv oder Frankfurt | |
ohne die Solidarität der Kibbuzniks einsam „wie ein kranker Hund“ | |
gestorben. Oz hebt die Hände. | |
Einsamkeit haben die Kibbuzniks nicht mit eingeplant. Für die segelohrigen | |
und schmalschultrigen Antihelden der Geschichten ist es dadurch oft umso | |
schwieriger, sich zu behaupten. Auch der Autor war ein Outsider. Im Alter | |
von 15, zwei Jahre nach dem Suizid seiner Mutter, verlässt er die Welt | |
seines Vaters und zieht 1954 in den Kibbuz Hulda. | |
## Von Klausner zu Oz | |
Um das Gegenteil von dem zu werden, was sein Vater war, ändert er seinen | |
Namen von Klausner in Oz, auf Deutsch Kraft oder Stärke. In geschliffenen | |
Sätzen erzählt er seine Geschichte: Sein Vater war konservativ, er wurde | |
Sozialist. Sein Vater war ein Intellektueller, er wollte einen Traktor | |
fahren. Sein Vater war klein, er wollte groß werden – das sei ihm nicht | |
gelungen. | |
Bis heute träumt Oz von einer Gesellschaft, in der sowohl das Individuum | |
als auch der Andere zur Geltung kommen. In der es genug Zuneigung für alle | |
gäbe, und: Frieden. Joav, der schüchterne Sekretär, bedauert einmal, dass | |
er nie dazu komme, über die wirklich wichtigen Dinge im Leben nachzudenken. | |
Das kann dem Leser nicht passieren. Nicht, solange er Oz liest. | |
„Unter Freunden“. Aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler. Suhrkamp Verlag, | |
Berlin 2013, 216 Seiten, 18,95 Euro. | |
21 Apr 2013 | |
## AUTOREN | |
Catarina von Wedemeyer | |
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