# taz.de -- Gefängnis: "Ich bin betriebsblind geworden" | |
> Der Leiter der Haftanstalt Tegel, Ralph-Günter Adam, geht in Ruhestand. | |
> Ein Gespräch über menschenwürdige Knäste, Ehrlichkeit und eigene Fehler. | |
Bild: Ungewöhnlicher Einblick in die JVA Tegel | |
taz: Herr Adam, wie viele Jahre haben Sie in der Haftanstalt Tegel | |
verbracht? | |
Ralph-Günter Adam: Wenn ich ganz genau bin: 35 Jahre und vier Monate. | |
Nie einen Antrag auf vorzeitige Entlassung gestellt? | |
Nein (lacht). Wenn ich sagen würde, Tegel ist meine zweite Heimat, hört | |
sich das bescheuert an. Aber ich habe hier ein unheimlich tolles | |
Berufsleben verbracht. Ich habe hier 1978 als Sozialarbeiter angefangen in | |
einer Zeit, in der ich wirklich viel verändern konnte. 2007 bin ich | |
Anstaltsleiter geworden. Ich hatte rundum Glück – auch wenn die Jahre als | |
Anstaltsleiter nicht annähernd das waren, was man sich als junger Mensch | |
vorgestellt hat. Aber das ist ja immer so. | |
Welche Vorstellungen hatten Sie früher? | |
Wenn du Anstaltsleiter wärst, dachte ich, würdest du alles ganz anders | |
machen. Dann kannst du alles bewegen. Aber die traurige Realität ist nun | |
mal: Je höher man in der Hierarchie aufsteigt, umso dünner wird die Luft. | |
Man ist in Zwänge eingebunden. | |
Haben Sie als junger Mann von so einer Karriere geträumt? | |
Nie. Ich bin gern Anstaltsleiter geworden; es wäre Quatsch, das zu | |
verleugnen. Aber ich bin kein Karrieretyp und ich glaube, auch kein | |
Machtmensch. Das macht es mir manchmal ein bisschen schwerer. Manche Leute | |
verstehen nicht, dass man Dinge auch anders lösen kann, als mit der Faust | |
auf den Tisch zu hauen. | |
Sie diskutieren lieber? | |
Manchmal diskutiere ich wahrscheinlich auch zu lange. Aber ich bin immer in | |
der Lage, eine Entscheidung zu treffen. Und auch das ist ganz wichtig in | |
der Arbeit im Strafvollzug: Man muss immer klar sein. Man muss authentisch | |
sein. Man muss den Leuten sagen, woran sie sind, und darf sich nicht hinter | |
Entscheidungen anderer verstecken. Das hat mir über die Jahre eigentlich | |
immer ein Entree auch bei den Gefangenen verschafft . | |
In Tegel sitzen 1.300 Gefangene ein. Wie viele kennen Sie persönlich? | |
Ich kenne immer noch eine ganze Menge. Ein paar sind nahezu so lange hier | |
wie ich. Als ich Teilanstaltsleiter war, habe ich noch alle gekannt. Als | |
Anstaltsleitung entfernt man sich von den Gefangenen natürlich immer mehr. | |
Als Sie 1978 in Tegel angefangen haben, war gerade das Strafvollzugsgesetz | |
eingeführt worden, in dessen Folge die verkrusteten Strukturen in den | |
Gefängnissen aufgebrochen wurden. Gehören Sie zu den Vertretern, die | |
meinten, man könne die Knäste abschaffen? | |
Ich komme aus der Generation, die generell alles ins Frage gestellt hat. | |
Aber ich habe nie angezweifelt, dass es Knäste geben muss. Es muss | |
Reaktionen auf Menschen geben, die eklatant gegen gesellschaftliche Normen | |
verstoßen und anderen Menschen sehr viel Leid zufügen. Für mich ging es | |
immer darum, die Strafanstalten zu reformieren und menschlicher zu machen. | |
Wie hat der alte Knastapparat seinerzeit auf junge Kollegen wie Sie | |
reagiert? | |
Meine Generation wurde nicht mit Freude aufgenommen. Man begegnete uns mit | |
großer Skepsis. Aber mir war ziemlich schnell klar: Wenn ich hier etwas | |
bewegen will, kann ich das nur, wenn die Mitarbeiter mich akzeptieren und | |
wir ins Gespräch kommen. | |
Was war Ihre Linie in Bezug auf die Arbeit mit den Gefangenen? | |
Mein Ansatz ist bis heute: Wir haben nicht die High Society und die | |
Bürgerschicht im Gefängnis. Zumeist sind es Menschen mit schwierigen | |
Lebenswegen, gekennzeichnet durch ganz viele Beziehungsabbrüche, angefangen | |
im Elternhaus. Darum ist es so wichtig, dass eine Kontinuität der Beziehung | |
in der Sozialarbeit aufgebaut wird, um mit den Menschen in einen realen | |
Austausch zu kommen. Wir wollen sie ja dazu bringen, sich zu verändern. | |
Dazu braucht man eine Vertrauensbasis. | |
Gibt es Gefangene, mit den Sie per Du sind? | |
Das ist grundsätzlich falsch. Das sage ich auch allen Mitarbeitern. | |
Halten die sich daran? | |
Bestimmt nicht alle. Viele meinen, dass ihnen das das Alltagsleben mit den | |
Gefangenen erleichtert. Aber in so einer geschlossenen Institution wie dem | |
Gefängnis lauern ja auch eine ganze Menge Gefahren. Wichtig ist es, ein | |
Distanz-Nähe-Verhältnis professionell aufrechtzuerhalten. Es ist ein sehr | |
schwerer Beruf, Vollzugsbeamter zu sein. Viel schwerer als meiner. | |
Warum? | |
Wir verlangen wahnsinnig viel von den Mitarbeitern. Auf der einen Seite | |
sollen sie die Insassen betreuen, an den Behandlungen teilnehmen, sich mit | |
ihnen auseinandersetzen. Immer mit der notwendigen Distanz, zugleich immer | |
ansprechbar. Auf der anderen Seite müssen sie die Gefangenen kontrollieren | |
und bewachen. Das ist eine extreme Gratwanderung. Früher, als die Beamten | |
nur für die Versorgung und Bewachung zuständig waren, waren die Fronten | |
klar. Die Gefangenen waren die Bösen. Schluss, aus. | |
Wie haben Sie selbst das Nähe-Distanz-Problem gelöst? | |
Man muss versuchen, Berufs- und Privatleben zu trennen. Man muss das | |
Gefängnis mental hinter sich lassen, wenn man aus der Pforte tritt. Nur so | |
kann man den Job auf Dauer machen. | |
Die Verantwortung kann ein Gefängnisleiter aber nicht abschütteln. Wie lebt | |
man damit? | |
Sie drückt schon. Aber der Mensch ist ein Gewohnheitstier. Frühere | |
Anstaltsleiter, die pensioniert sind, haben zu mir gesagt: Du kannst dir | |
nicht vorstellen, welche Last von dir abfällt. Im Alltag spürt man das | |
allenfalls, wenn man zu Hause ist und plötzlich das Telefon klingelt. | |
Sofort beschleicht einen die Angst, im Knast ist was passiert? | |
Wer Angst hat, kann gleich aufhören. Man muss Respekt haben vor bestimmten | |
Situationen. Aber man darf keine Angst haben. | |
Wie oft wurden Sie nach Feierabend in den Knast gerufen? | |
Absolut selten. Ich habe gute Mitarbeiter, auf die ich mich verlassen kann. | |
Es gab mal eine Situation, ich war beim Tennis, als Tegel anrief: Wir | |
vermissen einen Gefangenen. Als ich gehört habe, um wen es geht, wusste | |
ich: Da musst du hin. Es war Winter. Der Gefangene stand auf dem Dach des | |
Werkstattgebäudes. Wenn es so, wie es geplant war, mit seinen Helfern | |
draußen geklappt hätte, wäre er vielleicht weggekommen. Ich bin dann gegen | |
jeden vernünftigen Rat aufs Dach geklettert und habe mich mit ihm so lange | |
unterhalten, bis er aufgegeben hat. | |
Sie haben ihn runtergequatscht? | |
Es hat geklappt. Mein Verhalten war natürlich völlig falsch. Sich selbst | |
soll man nicht in Gefahr begeben, ist ja logisch. Mir ging es nur darum, | |
eine Eskalation zu verhindern, bei der mehrere hätten zu Schaden kommen | |
können. Die Polizei und das SEK waren ja schon da. Der Einsatzleiter hat | |
meine Beweggründe zum Glück verstanden. | |
Ihr Verdienst als Sozialarbeiter war, dass Sie in Tegel den | |
Wohngruppenvollzug eingeführt haben. Wie sieht Ihre Bilanz als | |
Anstaltsleiter aus? | |
In der letzten Zeit war es zugegebenermaßen eine größere Leistung, | |
Standards aufrechtzuerhalten, als noch viel zu verändern. | |
Sie haben um den Erhalt des Bestands gekämpft? | |
Für meine Begriffe stehen in Politik und Verwaltungshandeln Dinge im | |
Vordergrund, die im Strafvollzug eigentlich nicht dafür dienen, dass wir | |
unsere Aufgaben erfüllen. Wenn es um die Effektivität geht sowie um Kosten | |
und Nutzen, mag das alles schön sein und richtig. Aber für meine Begriffe | |
wird das zu wichtig genommen. Viel zu viele Menschen beschäftigen sich mit | |
Dingen, die mit den Gefangenen nur noch auf einer theoretischen Ebene zu | |
tun haben. Als ich jung war, haben wir immer gesagt: Wir können das viel | |
besser als die Alten. Heute ist man selbst der Alte und versteht ganz | |
vieles nicht mehr, was die Jungen wollen. | |
Gibt es irgendetwas, für das Sie sich im Nachhinein Vorwürfe machen? | |
Ich habe mich von der früheren Rechtslage genauso blenden lassen wie andere | |
und gedacht, die Sicherungsverwahrten kommen nie wieder raus. Wir hätten | |
viel mehr Mitarbeiter in diesen Bereich reingeben müssen, um die Chance zu | |
erhöhen, den Einzelnen zu erreichen. | |
Das Bundesverfassungsgericht hat inzwischen höhere Anforderungen an die | |
Unterbringung und Betreuung von Sicherungsverwahrten gestellt, die ihnen | |
zumindest eine gewisse Perspektive eröffnet. Fällt Ihnen noch etwas ein? | |
Das Zweite betrifft die Teilanstalt 1 in Tegel. Der Berliner | |
Verfassungsgerichtshof hat festgestellt, dass die Unterbringung | |
menschenunwürdig ist. | |
Die Zellen in der Teilanstalt 1 sind fünfeinhalb Quadratmeter groß. Das Klo | |
befindet sich direkt neben dem Bett. Nach dem Beschluss des | |
Verfassungsgerichtshofs wurde das Haus geschlossen. | |
Natürlich könnte ich mich rausreden, dass wir das Haus belegen mussten, | |
weil wir eine Überbelegung und teilweise 1.700 Gefangene hatten. Aber das | |
ist keine Entschuldigung. | |
Man schleift ab? | |
Das ist leider so. Ich bin betriebsblind geworden. Dass die Unterbringung | |
menschenunwürdig war, hätte ich sehen müssen. Dabei geht es nicht um mein | |
Renommee, sondern um meine Grundeinstellung eines humanen Strafvollzugs, | |
die ich gegen ganz viele Widerstände versucht habe zu leben. | |
22 Apr 2013 | |
## AUTOREN | |
Plutonia Plarre | |
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Strafvollzug | |
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