# taz.de -- Ex-Mönch beim Kirchentag: „Arme sind meistens konservativ“ | |
> Der Theologe Fulbert Steffensky war einst katholischer Mönch. Heute ist | |
> er ein Star des Protestantismus. Ein Gespräch über unwichtige | |
> Hierarchien. | |
Bild: „Ginge ich weg, wüsste ich nicht, wohin“: Fulbert Steffensky zu Besu… | |
Wir konnten uns zufällig in Hamburg treffen – gerade war er wieder auf | |
Besuch in der Stadt, in der er so viele Jahre zusammen mit Dorothee Sölle | |
lebte. Fulbert Steffensky, wie seine verstorbene Frau Legende einer Kirche | |
der Basis, der Friedensbewegung und der politischen Aufmerksamkeit für die | |
„Dritte Welt“, lebt seit fast zwei Jahren mit seiner neuen Lebensgefährtin | |
im schweizerischen Luzern. Steffensky, katholisch aufgewachsen, 13 Jahre | |
Benediktinermönch in Maria Laach, ehe er 1969, auch der Liebe – zu Dorothee | |
– wegen, zum Protestantismus konvertierte. Der Theologe wirkt ausgesprochen | |
rege und ruhig zugleich. In dem Haus in einem grünen Stadtteil Hamburgs | |
lebt jetzt seine Tochter. Steffensky ist froh, so alle sechs Wochen in | |
seine alte Heimat zurück zu kommen. | |
sonntaz: Herr Steffensky, Sie feiern im Juli Ihren 80. Geburtstag. Blicken | |
Sie zurück, würden Sie sagen, die Welt ist besser geworden im Laufe Ihres | |
Lebens? | |
Fulbert Steffensky: Ich frag mich oft, ob die Leute früher glücklicher | |
waren. Ich habe darauf keine Antwort. Aber wenn ich zurückblicke, sehe ich, | |
wie viel die Menschen früher gearbeitet haben, jedenfalls in der Welt, in | |
der ich gelebt habe. Von morgens bis abends. Menschen in meinem Alter | |
gingen krumm und waren zahnlos. | |
So sahen sie aus, ich erinnere mich daran. | |
Die Menschen waren ja nicht nur äußerlich arm; sondern auch innerlich karg. | |
Armut macht ja nicht edel. Manchmal sogar böse. Allerdings war das eine | |
kollektive Armut; die ist leichter zu tragen. In diesem Ort, 3.000 | |
Einwohner, in dem ich Kind war, waren alle arm. Es gab keinen Luxus. So | |
kannten wir auch keinen Abfall. Die Leute haben gearbeitet, in einer | |
gedeuteten Welt gelebt, waren fromm. | |
Das war üblich? | |
Ja – aber die Frömmigkeit war nicht nur in den Herzen, sondern in der | |
praktischen Ausübung des Glaubens. | |
Hieß fromm damals hierarchiehörig? | |
Alle waren hierarchiehörig; nicht nur in der Kirche. Religion ist immer | |
zwiespältig; sie ist Trost und manchmal Verdummung. Das Schöne dieser | |
Volksreligion: Alle Wünsche und Leiden der Menschen hatten ihre Orte und | |
ihre Gesten. Alle Lebensumstände hatten eine religiöse Bedeutung. | |
Inwiefern? | |
Ich nehme als Beispiel die vierzehn Heiligen, die in dieser Tradition | |
zuständig waren für die Grundsorgen der Menschen. Es gab einen Heiligen | |
gegen das Feuer, gegen das Gewitter, gegen Kopfschmerzen. Es war eine | |
Religion der Sorge der kleinen Leute, die oft wichtiger war als der | |
offizielle Katholizismus. | |
Und die Hierarchie? | |
Die war unausweichlich, und da kommt die Sexualität ins Spiel. Mit diesen | |
rigiden Normen von alten Männern – nein, es war nicht nur das Problem der | |
alten Männer sondern des Systems. Das hat viel Unglück gebracht, viele | |
Ängste bewirkt. Aber das hat nicht nur mit den Religionshierarchien zu tun: | |
Wenn die Lebensängste groß sind, ist auch die Gottesangst groß. | |
Sie sind an der Saar aufgewachsen, unter Bergarbeitern. | |
Ja, dort, wo die Armut sich auch als eine geistige Unbeweglichkeit gezeigt | |
hat. Bloß nichts Neues! Arme sind ja meistens konservativ. Es kann | |
eigentlich nur schlechter kommen, denken sie. Es herrscht ein | |
pessimistisches Weltbild. Die Kirche war Trost und Unterdrückung in einem. | |
Wie haben Sie sich selbst damals gesehen? | |
Ich war damals vollkommen integriert. Wir kannten den Zweifel nicht, den | |
großen Lebensretter. Aber es gab immer listige Möglichkeiten, dem System zu | |
entkommen. | |
Welche? | |
Etwa die Beichte. Aber sie war sehr auf Sexualität und Gehorsam | |
konzentriert. Die Beichte hat Menschen entlastet – und es war eine Portion | |
Magie dabei. Es ging um die Lossprechung, auf die kam es an. Dafür hat man | |
den Beichtvater gelegentlich auch beschissen. | |
Wie? | |
Ich habe mal ein Gespräch gehört. Wir waren junge Theologen und unterwegs, | |
gingen in eine Kneipe. An unseren Tisch setzten sich zwei junge Männer in | |
großer Erregung. Sie kamen vom Beichten, das war unüberhörbar. Beide hatten | |
sie gebeichtet, gegen die sexuellen Gebote Roms gesündigt zu haben. Der | |
eine war losgesprochen worden, der andere aber nicht. | |
Oh! | |
Und jetzt hat der eine dem anderen erklärt, wie man das beichten müsste, um | |
die zu erlangen. | |
Wie schafft man es, keine Absolution zu erhalten? | |
Wenn man ganz ehrlich ist. | |
Dass das Sexuelle Freude bereitet hat? | |
So weit hätte sich keiner vorgewagt. Aber wenn man gesagt hätte, ich habe | |
mit einer Frau geschlafen, werde es wieder tun, bereue es nicht und so | |
weiter. Es nicht zu bereuen, das geht nicht. | |
Ein Spiel mit Regeln, recht verstanden? | |
Ja, eines zwischen Pfarrern und den Leuten. Die Pfarrer haben es ja auch | |
nicht richtig ernst genommen, wenn sie das Spiel begriffen haben. Neulich | |
traf ich einen alten Jesuiten, der hörte im Beichtstuhl von einer Frau, die | |
sagte, ich habe mit meinem Freund geschlafen und bereue es nicht. Ich | |
fragte ihn, was er ihr denn erwidert habe: „Na, das wär ja wohl noch | |
schöner!“ | |
Eine katholische Zweideutigkeit, nicht wahr? | |
Und die sehr gefährlich ist. Sie hat Freiheitsmomente, aber sie kratzt das | |
System nicht an. | |
Und das Evangelische belässt einen in Schuld? | |
Nein. Das Evangelische hat weniger dramatische Elemente der | |
Selbstdarstellung. Auch der der Selbstdarstellung in der Schuld. Aber | |
natürlich kennt der Protestantismus die Elemente der Beichte: die Reue, die | |
Bereitschaft, etwas zu verändern und auch das Bekenntnis, vielleicht nicht | |
in dieser symbolischen Aufladung. Der Vorteil ist die größere | |
Innerlichkeit, der Nachteil die Gestenlosigkeit. | |
Heinrich Heine hat sich über die Kargheit des protestantischen Glaubens | |
beschwert. | |
Ja, der Katholizismus ist auch Landschaft, nicht nur Innerlichkeit. Man | |
sieht sie, wenn man sich in der Welt umguckt – Italien ist eine solche. | |
Geprägte Landschaften vom Glauben. Das ist der Vorteil – den Nachteil sieht | |
man im ganzen Papstwesen. Die Macht braucht das Drama, die Öffentlichkeit. | |
Der neue Papst ist bestimmt ein sympathischer Mensch – aber mit welcher | |
Inszenierung! Man braucht nicht an die Unfehlbarkeit zu glauben, man sieht | |
sie aufgeführt. | |
Was sind Sie heute selbst: ein evangelischer Einst-Katholik oder einfach | |
nur Christ? | |
Nein, ich wünsche, ein Christ mit Stallgeruch zu sein. Also entweder | |
katholisch oder evangelisch. Ich bin evangelisch mit dem Vergnügen, | |
zwischen den Stühlen zu sitzen. Wenn man nur eines kennt, verdummt man in | |
sich selbst. Man wird nur stark und reich am Fremden. Am Anderen. Groß | |
geworden bin ich in einem Dorf, wo man so katholisch war wie man atmete. | |
Man kannte nur sich. Ich würde sagen, das sind Gegenden der Dumpfheit. | |
Einst meinte ich, katholischer Christ und evangelischer Theologe zu sein. | |
Als evangelischer Theologe bin ich freier, brauche keine Winkelzüge, | |
brauche nicht zu überlegen, was eine Autorität dazu meint, was ich sage. | |
Kargheit sei Ihnen immer lieber geworden, verführerischer Opulenz hingegen | |
misstrauten Sie. Was ist falsch am Verführerischen? | |
Weil die Verführung meinen Verstand vernebeln will. Wenn ich die großartige | |
Selbstinszenierung Roms sehe, werde ich benebelt. Viele werden ja, auch | |
Nichtchristen, davon angezogen. Die Aufführung dieser Macht macht diese | |
einleuchtend. Ich vergleiche nicht gern Katholizismus mit dem | |
Nationalsozialismus. Aber wenn man überlegt, welches Interesse die Nazis an | |
Inszenierungen hatten, an Uniformen, an Rängen, an Aufmärschen, dann | |
leuchtet einem die vernebelnde Wirkung von Opulenz ein. | |
Aber ist Verführung nicht auch etwas Schönes? Waren Sie nicht verführt, als | |
Sie Dorothee Sölle zum ersten Mal sahen? Und wollten Sie nicht auch ihr | |
gefallen – ohne viele Worte? | |
Ich nenne das Werbung im guten Sinne des Wortes. Es gibt wirklich keine | |
Idee, die nicht für sich wirbt, indem sie sich aufführt. Ob das eine | |
religiöse Idee oder eine andere ist. Ich glaube, dass die pure | |
Innerlichkeit auch das Gefängnis der Wahrheit sein kann. Also wenn man sich | |
nicht aufführt. Pure Innerlichkeit ist wie eine Partitur, die noch nicht | |
Musik geworden ist. Insofern gehört Werbung zum Wesen einer Sache. Eine | |
Sache wird auch einleuchtend, indem ich sie vor anderen vertrete. Wer | |
liebt, will zeigen, was er liebt. | |
Zurück zur Inszenierungskraft: Was ist der Kirchentag heute? | |
Die Distanzierten, die Jugendlichen, die Frommen, die Diakonissen, | |
Halbgläubige und auch Ungläubige – sie können sich nicht mehr übersehen. | |
Sie treffen sich. Und es gibt Streit. Den gab es schon immer. Um den | |
Golfkrieg, um Juden und Christen, Friedensbewegung, Frauen oder was weiß | |
ich. Das heißt Lebendigkeit. Streit ist ein Mittel der Wahrheitsfindung. | |
Trotzdem gibt es diese Grundfreundlichkeit des Kirchentages. Ich bin immer | |
wieder erstaunt, dass sich 140.000 Menschen treffen – und es gibt keinen | |
Abfall. Oder wie man sich wo auch immer hilft. Viele gehen ja auch einfach | |
hin und besuchen kaum Veranstaltungen. | |
Aber ohne Themen gehts nicht? | |
Selbstverständlich. Freundliche Menschen kann ich auch in einer Kneipe | |
treffen. Aber Tage, an denen Grundthemen unserer Gesellschaft verhandelt | |
werden – Friede, die Schändung unserer Natur, das Recht der Frauen, der | |
Armen etwa – sind kostbar. Einer der raren Orte in unserer Gesellschaft. | |
Manche Menschen lehnen die Kirchen ab - wertschätzen aber ihre | |
Beharrungskraft gegenüber dem rasenden Zeitgeist. | |
An dieser Kirche interessiert mich, dass sie eine Gruppe von Menschen ist, | |
die verpflichtende Texte hat. Die Bergpredigt zum Beispiel. Es gibt nicht | |
so viele Gruppen mit verpflichtenden Texten. Ich kenne welche, die sind | |
viel radikaler. Ich bin ja selbst Mitglied von Attac. | |
In wen setzen Sie Ihre Hoffnungen? | |
Nicht in Kirchenleitungen. Die muss es geben, aber die sind meist mittlere | |
Agenturen des Geistes, etwas fortschrittlicher als die Gemeinden, etwas | |
rückschrittlicher als die Gruppen. Die Gruppen der Frauen, der Ökos, der | |
Friedensbewegten – sie sind die Gruppen, die das Prophetische | |
repräsentieren. Das sind die Läuse im Pelz der Kirche. Auf diese setze ich. | |
Wird es im Alter leichter zu glauben? | |
Früher hieß es, die Alten verlieren die Zähne und werden fromm. Das mit den | |
Zähnen stimmt, aber das andere glaube ich nicht. | |
Und das liegt woran? | |
Es gibt einen erlaubten Pessimismus des Alters. Man hat viel gesehen, man | |
hat viel Glück erlebt, man hat sich selber als Fragment erlebt, man erlebt | |
die Welt in ihren Untergängen. Man braucht sich nichts mehr zu | |
verschweigen, und es ist nicht leicht, an Gott zu glauben. | |
Herr Steffensky, was ist die Aufgabe der Kirche? | |
Die Träume, die die Menschen hegen, zu nähren. Die Bergpredigt in die Leben | |
zu speisen. Die aufsässigen Geschichten oder die tröstlichen zu preisen – | |
Träume ins Licht zu holen. | |
Ist Kirche heute so vital wie in Zeiten, als Dorothee Sölle und Sie Ende | |
der Sechziger das Politische Nachtgebet erfanden? | |
Ich glaube, Kirche war noch nie so interessant wie heute. Die Kirche, die | |
ich erlebt habe, die war kriegslüstern, die hat Waffen gesegnet und nahm | |
das Recht der Armen kaum wahr. Die hat die Arbeiter verloren – es waren die | |
Kirchen, die den Vatikan bauten oder die Hamburger Kaufmannskirche, den | |
Michel: Aber was hat dies mit dem armen Jesus von Nazareth zu tun? | |
Angeblich haben wir die Traditionen des christlichen Abendlandes verloren. | |
Nein, haben wir nicht. Wenn ich diesen Kirchentag in Hamburg sehe, seine | |
Themen – das ist ein sehr guter Ort. Ich setze nicht auf die | |
Großinstitutionen, obwohl es sie geben muss. Ich warte nicht auf diese | |
Fußkranken des Christentums. Ich warte auf die Gruppen, die es gibt – gegen | |
die Verschwendung, für Frauen, Frieden. Ich weiß, das ist alles zu wenig – | |
aber ich entmutige mich selbst, wenn ich immer nur sehe, was nicht gelingt. | |
Wenn ich hoffen will, bin ich verpflichtet, auch die frühen Knospen | |
wahrzunehmen. Ginge ich weg, wüsste ich nicht wohin. | |
5 May 2013 | |
## AUTOREN | |
Jan Feddersen | |
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