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# taz.de -- Ausstellung: Zufall Moderne
> Das Sprengel Museum Hannover beschäftigt sich mit dem Zufall als
> Gestaltungsprinzip der Kunst der Moderne.
Bild: Kunst aus Versehen: Exponat im Sprengel Museum in Hannover.
HANNOVER taz | Wie entsteht eigentlich ein Kunstwerk? Und sind die
künstlerisch Schaffenden allesamt absolutistische Autoritäten, die ihre
Werke von der Konzeption über die Produktion bis hin zur Rezeption fest im
Griff haben? Natürlich sind Zweifel angebracht. Allerdings sprechen selbst
abgeklärte zeitgenössische Künstler allenfalls über ihren Werkanspruch oder
bildnerische Themen. Weniger gern gewähren sie Einblicke in ihr kreatives
Handwerk, also das Suchen, Probieren und Finden einer Umsetzungsstrategie
ihrer Ideen.
Eine intelligent konzentrierte kleine Ausstellung im Sprengel Museum
Hannover geht derzeit dem Zufall als Gestaltungsprinzip der Kunst der
Moderne nach. Volontärin Annerose Rist erhielt im Hause die kuratorische
Freiheit, die Sammlung des Museums nach künstlerischen Haltungen zu
befragen, die einen Teil der Autorschaft oder der Kontrolle über den
Kompositionsprozess an unvorhersehbare und überraschende Einflussfaktoren
abgeben, diese Unwägbarkeiten aber auch bewusst als programmatische
Erweiterung einsetzen.
Rist formulierte vier Kategorien und besetzte sie mit insgesamt rund 70
Exponaten. Die Werkgruppen erstrecken sich, nicht streng chronologisch
geordnet, von den kunsthistorisch ersten Auftritten des Zufalls zu Beginn
des 20. Jahrhunderts über das Einbeziehen von Naturphänomenen wie Verderben
oder Verschimmeln, über frühe maschinell gestützte Kunst der 1960er Jahre
bis zum Einsatz der Farbe jenseits des klassischen Pinselauftrags.
Natürlich darf der Urvater des Zufälligen, Marcel Duchamp, in diesem
Überblick nicht fehlen. Zur 100. Wiederkehr der von ihm ab 1913
konstituierten Readymades eröffnet er den ersten Ausstellungsraum in
Hannover mit der Reproduktion seiner „Drei Musterfäden“, den „3 stoppages
étalon“. Nach genauem, schriftlich notiertem Versuchsaufbau ließ Duchamp
drei je ein Meter lange Fäden aus genau ein Meter Höhe zu Boden fallen. Das
Ergebnis wurde auf Leinwandstreifen fixiert und später in hölzerne
Messlatten überführt.
Die drei Metermaße sind durch den unterschiedlichen, zufälligen
Kurvenverlauf nun unterschiedlich lang, ergeben somit „verminderte Meter“,
das perfekte Paradoxon. Marcel Duchamp interessierte aber nicht die Gestik
einer provokanten Aktionskunst späterer Künstlergenerationen. Er unternahm
das philosophische und visuelle Experiment, etwas dingfest zu machen, das
keinerlei ästhetische Emotionen hervorruft.
Diese Totalverweigerung war auch die ironische Kommentierung einer
Erwartungshaltung an die Kunst, die zu hohler gesellschaftlicher Konvention
verkam. In Hannover ist ebenfalls Duchamps „Grüne Schachtel“ von 1934 zu
sehen. Sie enthält rund einhundert Faksimiles kleiner ausgerissener
Notizen, Skizzen oder Fotos, die vom fiktiven Nutzer in willkürlicher
Abfolge als Erläuterungen des ab 1915 entstandenen Hauptwerks Duchamps, dem
„Großen Glas“, zu studieren wären. Ob das Konvolut allerdings beitragen
könnte, das kaum erklärbare Werk zu entschlüsseln, bleibt fraglich. Somit
ist die Rezeption von weiteren, unberechenbaren und individuellen
Erfahrungen abhängig.
Zu den ersten Künstlern, die das Zufällige als bewusste Impulsgeber in ihre
bildnerische Aussage einbezogen, gehörte ab 1920 auch der Hannoveraner Kurt
Schwitters. Seine Collagen und Merzbilder verwenden alte Eintrittskarten
und anderes Weggeworfenes – die pure Lebenswirklichkeit, von der Straße
aufgelesen. Für seine i-Bilder nimmt er später verrutschte Fehldrucke, die
an damals bereits kanonisierte futuristische und kubistische
Bewegungsdarstellungen anspielen, darunter eine kleine Hommage an Duchamps
„Akt eine Treppe herabsteigend“.
Materialisierte Zufallsmomente finden sich auch in Objekten der beiden
befreundeten Künstler Dieter Roth und Daniel Spoerri ab den 1960er Jahren
bei ihrer Verwendung von Lebensmitteln. Während Roth den natürlichen
Verfallsprozess einer Salamischeibe in einer transparenten Plastiktasche
eine malerische Aureole erschaffen lässt, konserviert Spoerri in seinen
„Fallenbildern“ das Spontane eines unbewusst geschaffenen Arrangements.
Die zufällige Anordnung von Geschirr und Essensresten einer gemeinsamen
Mahlzeit oder auch Flohmarktfunde werden als Tableau fixiert, an die Wand
gehängt und erscheinen nun wie Vanitas-Stillleben modernen Typs, die
Vergänglichkeit aller irdischer Existenz mahnend. Allerdings durchkreuzt
Spoerri diese vermeintliche Deutung, indem er seinen Objektbildern Titel
gibt, die wenig hilfreich für ihre Interpretation wären, gar falsche
Fährten legen. Spoerri steht damit in einer Traditionslinie mit Marcel
Duchamp, strebt gleichfalls nach der Autonomie des Artefakts, zieht sich
als Künstlersubjekt, zumindest zeitweilig, zurück.
Zufallsmomente treten auch multipel auf. Jean Tinguely lässt ab 1960 den
menschenbetriebenen Cyclograveur oder die elektrischen Méta-Matics von
Ausstellungsbesuchern bedienen und mechanische Zeichnungen erzeugen. Die
Autorschaft ist mehrfach delegiert, aber in einem von Tinguely
ausgetüftelten Setting.
Seine Ehefrau, Niki de Saint Phalle, revolutionierte derweil das klassische
Tafelbild, auch durch partizipative Zufälle. Sie präpariert Farbbeutel,
hüllt sie in einer Gipsmasse ein. Anonyme Galeriebesucher werden
aufgefordert, mit dem Luftgewehr auf sie zu schießen. Der Inhalt der Beutel
zerfließt über der weichen, weißen Masse, bildet unkalkulierbare plastische
Farbverläufe. In einen altmeisterlichen Rahmen gefasst ist Saint Phalles
Systemkritik evident: Zufallsakteure und eigendynamische Bildergebnisse
sprengen kontrollierte Produktionsformen der Künstler-Egomanen.
Niki de Saint Phalle ist nun die einzige Frau unter den insgesamt vierzehn
in Hannover präsentierten Künstlern, von denen lediglich fünf noch leben
und aktuell praktizieren. Das stellt neben einem retrospektiven
Genderaspekt auch die Frage nach dem derzeitigen Selbstverständnis der
Kunst und ihrer Akteure. Wo sind, außer bei Gerhard Richter, heutige
Positionen im bewussten Bekenntnis zum Zufall im kreativen Prozess? Die
befreiende Qualität des Zufälligen war den historischen Protagonisten ein
intellektuelles Anliegen. Sie provozierten und bändigten gleichermaßen den
Zufall in ihren konzeptionellen Versuchssystemen, erschwerten die Rezeption
ihrer Werke durch die Verweigerung ästhetischer Simplizität. Das berührt in
seiner aufbegehrenden Modernität, scheint aber augenblicklich eher
unzeitgemäß.
## „Purer Zufall. Unvorhersehbares von Marcel Duchamp bis Gerhard Richter“:
bis zum 15. September, Sprengel Museum, Hannover
20 May 2013
## AUTOREN
Bettina Maria Brosowsky
## TAGS
Kolumne Großraumdisco
Exil
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