# taz.de -- Literatur: „Handelt das Gedicht von Gott?“ | |
> Die Zeitungsinitiative „Irrturm“ vereint Bilder, Gedichte und Geschichten | |
> von Menschen mit Psychiatrie- und Krisenerfahrungen – und das seit | |
> mittlerweile 25 Jahren | |
Bild: "Irrturm"-Redaktionssitzung: Georg redet ab und zu dazwischen, Andrea geh… | |
Als Andrea drei Jahre alt war, hat ihr Vater sich das Leben genommen. Stark | |
kriegstraumatisiert sei er gewesen, erzählt sie, dreimal war er im Klinikum | |
Bremen-Ost: „Da haben die Nachbarn nur noch vom dem aus der Klapsmühle | |
gesprochen.“ Als sie anfing, Stimmen zu hören, wollte sie keine Hilfe, sie | |
hatte zu viele Horrorgeschichten über die Psychiatrie gehört und darüber, | |
dass man vollgestopft würde mit Medikamenten: „Anstatt zum Arzt zu gehen, | |
habe ich mit meinem Kopf gegen die Wand geschlagen, damit das aufhört.“ | |
In der Redaktionssitzung des Irrturm stellt sie sich der neunzehnköpfigen | |
Runde vor: „Hallo, ich heiße Andrea, bin transsexuell und höre Stimmen. | |
Aber ansonsten geht’s mir gut.“ Großes Gelächter, gelöste Stimmung. Humo… | |
so scheint’s, hilft. Selbst Ulrike: ihre Depressionen sind zur Zeit so | |
schlimm, dass sie nicht weiß, ob sie die Sitzung durchhalten wird, und | |
tatsächlich ist sie nach einer Stunde verschwunden. Vorher liest sie ihren | |
neuesten Text vor – die Wettervorhersage für Mittwoch, den 29. Mai. Die | |
endet mit den Worten „keine Besserung in Sicht“. | |
Wieder Heiterkeit, aber auch Diskussionen. Einer zweifelt an Ulrikes | |
Zustand: „Es muss ihr gut gegangen sein, als sie das geschrieben hat.“ Zu | |
unpersönlich sei der Text, sagt ein anderer. Trotzdem wird ihre „seelische | |
Wettervorhersage“ im nächsten Irrturm erscheinen, die Abstimmung | |
entscheidet mit zwei Gegenstimmen und fünf Enthaltungen für Ulrikes | |
Beitrag. | |
Auch Irmgards Text wird angenommen. Der handelt davon, wie sie sich auf den | |
Redaktionssitzungen fühlt und von ihren Angstzuständen auf der Bus- und | |
Bahnfahrt. Der Hinweg klappe mittlerweile gut, aber „leider muss ich immer | |
pünktlich um 13 Uhr weg, denn die Rückfahrt ist von Panikattacken bedroht. | |
Ich habe um 15 Uhr Krankengymnastik, und zwischendurch muss ich ja auch | |
noch was essen.“ Unprätentiös und klar ist ihre Schilderung, „der Beitrag | |
passt super zum Thema des nächsten Irrturms“, sagt jemand. | |
Die 25. Ausgabe trägt den Titel „Innen sein und außen leben“. Das Thema | |
wird ernst genommen, die Texte werden genau auf dieses Kriterium | |
abgeklopft. Heute werden alle angenommen, aber das ist nicht immer so: „Ein | |
Text, den ich zum Thema Zwangsbehandlung geschrieben habe, wurde | |
abgelehnt“, erzählt Andrea, die sich mittlerweile zum Therapeuten traut und | |
deren Befürchtungen nicht eingetroffen sind. „Ich habe dafür plädiert, | |
Patienten nur noch kurz und unter Aufsicht zu fixieren.“ Das sei auf | |
heftigen Widerstand bei denjenigen gestoßen, die selbst Erfahrungen mit | |
Zwangsbehandlungen hatten: „Ich habe glücklicherweise keine, aber ich habe | |
daraus gelernt, dass jede Zwangsbehandlung falsch ist, egal, wie lange sie | |
dauert“, sagt Andrea. | |
Die Texte im einmal jährlich erscheinenden Irrturm werden so gut wie nicht | |
redigiert. „Wir korrigieren“, sagt Jörn Petersen, Koordinator der | |
Zeitungs-Ini, „Rechtschreib- oder Grammatikfehler. Etwas anderes wird nur | |
gemeinsam entschieden oder so gelassen, wie es ist.“ Trotz der Stärke der | |
Redaktion – jeden Mittwoch sind 15 bis 20 Menschen da – läuft der | |
Entscheidungsprozess sehr diszipliniert ab. Lediglich Georg redet ab und zu | |
dazwischen, hört aber sofort wieder auf, sobald er nur ein kleines Zeichen | |
bekommt. Die Kritikfähigkeit ist genauso groß wie die Offenheit. Und: | |
niemand muss sich erklären. „Handelt das Gedicht von Gott?“, fragt Georg. | |
„Nein“, lautet die lapidare Antwort – und damit ist das Thema erledigt, | |
auch für Georg. | |
Der Irrturm ist ein Selbsthilfe-Projekt, in dem Bilder, Gedichte und | |
Geschichten von Psychiatrie-Erfahrenen und Menschen in Krisensituationen | |
Raum bekommen. Mit zusätzlichen Sonderausgaben – die erste zum Thema | |
Zwangsbehandlung wurde nach der Änderung des Psychisch-Kranken-Gesetzes im | |
April aktualisiert – will Petersen dem „Lesebuch-Charakter“ des Irrturms | |
„etwas politischeres entgegensetzen, das tiefer ins Thema eintaucht.“ Das | |
tut not, denn auch, wenn die Stigmatisierung von psychisch Erkrankten nicht | |
mehr so stark ist wie bei Andreas Vater sei sie noch da. „Wir würden | |
beispielsweise gerne in Schulen gehen, stoßen mit der Idee aber auf große | |
Zurückhaltung“, sagt Petersen. | |
30 May 2013 | |
## AUTOREN | |
Simone Schnase | |
## TAGS | |
Psychiatrie | |
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