Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Unterwegs mit der taz: Brief aus Tunesien
> Eine Reise in die tunesische (Zivil-)Gesellschaft eröffnet vielfältige
> Einblicke in ein arabisches Land, das dank des überall präsenten
> Französisch unmittelbar zugänglich ist.
Bild: Die politische Entwicklung Tunesiens ist so unübersichtlich wie das Gedr…
Unsere kleine Reisegruppe in Begleitung zweier taz-Journalistinnen
erreichte Tunis zeitgleich mit den Teilnehmern des Welt-Sozialforums. Unter
dem Motto der Revolution vom Januar 2011: „Würde, Freiheit, Arbeit!“ wurde
die große bunte Eröffnungsdemo der gut 40.000 Teilnehmer durchs Zentrum von
Tunis angeführt von der Witwe Chokri Belaids, des im Februar auf offener
Straße ermordeten Politikers der tunesischen Volksfront (Front Populaire).
Er hatte die linke Opposition geeint und wird heute im ganzen Land als
Lichtgestalt der Revolution verehrt, sein Tod ist Ansporn, weiterzukämpfen.
Die lokale Presse äußerte sich stolz über die Ausrichtung dieses
gewichtigen Treffens gerade in dem Land, in dem die sogenannte Arabellion
2011 begonnen hat, aber noch längst nicht vollendet ist. Denn, so eine
politische Erkenntnis dieser Reise: Der Diktator wurde verjagt von mündigen
Staatsbürgern, die sich nun endlich „frei“ fühlen, frei zu demonstrieren,
zu protestieren und weitere demokratische Rechte einzufordern.
## Die Islamisten und der Neoliberalismus
Die Erleichterung darüber, nach Jahrzehnten der Angst, der Verfolgung oder
Anpassung, ist spürbar, auch darüber, daß es wenig Blutvergießen gab, denn
das Militär hielt sich zurück. Aber die Strukturen der Verwaltung, der
Wirtschaft sind noch weitgehend die alten oder werden nun besetzt von
Vertretern der stärksten Regierungspartei Ennahda (in einer „Troika“), das
heißt von islamistischen Kräften, die das Rad der Geschichte zurückdrehen
und den Volkszorn religiös-fundamentalistisch einbinden wollen.
Der herrschende wirtschaftliche Neoliberalismus bleibt dabei unangetastet,
die meisten Weltfirmen sind längst vor Ort, in den großen Neubauvierteln um
den Lac de Tunis. Von dem neuen privilegierten Partnerstatus mit der EU
verspricht man sich Aufschwung, immerhin ist Europa mit 80 Prozent des
Austauschs derwichtigste Handelspartner und kontrolliert die größte
Ressource, die Phosphatvorkommen.
## Die Angst der Frauen
Dennoch hoffen die meisten Fraktionen des breiten politischen Spektrums,
die tunesische Politik selbst bestimmen und wichtige soziale Einrichtungen
vor der Privatisierung bewahren zu können. Dass das schwer werden dürfte,
schon angesichts der bestehenden Auflagen des Internationalen Währungsfonds
(IWF) und der EU, die schon Ben Ali unterstützt hatten, wird lediglich von
der linken Front Populaire thematisiert. Sie fordert zum Beispiel, den
hohen Zinsendienst für die Staatsverschuldung einige Jahre lang
auszusetzen, und diese immerhin 18 Prozent des tunesischen Staatshaushalts
betragende Summe für eine wirksame Arbeitsmarktpolitik einzusetzen. So war
denn auch das Fazit eines Seminars über den aktuellen Stand der
Revolutionen in Tunesien und speziell in Ägypten, wo der politische Islam
bereits die Oberhand hat: „Der Islam ist nicht die Lösung – er ist auch
nicht das Problem.“
Und doch begleitete uns der komplexe Islambegriff auf der ganzen Reise mit
seinen kulturellen und politischen Konnotationen. In der europäisch
geprägten Millionenstadt Tunis sind es vor allem hochengagierte
emanzipierte Frauen, die zum Ausdruck bringen, daß sie hinter ihren – schon
unter Präsident Habib Bourguiba erreichten – zivilen Status nicht
zurückgehen, sondern den Staat durch eine fortschreitende Emanzipation
weiter liberalisieren werden, zum Beispiel durch Verankerung ihres
Erbrechts und anderer Bürger- und Menschenrechte in der neuen Verfassung,
auf deren Verabschiedung alle drängen und warten.
## Postrevolution ohne Illusionen
Wir erfahren von der frühen Entwicklung der Frauen im Lande, die schon vor
Jahrtausenden, bei den Berbern und dann im punischen Karthago
gleichberechtigte Positionen einnahmen, was noch im Unterbewußtsein vieler
Tunesierinnen verankert sein soll. Die junge Bloggerin „Tunesian girl“,
namens Lina Mhenni, ist Tochter eines der Begründer von Amnesty
International in Tunis, und setzt dessen Kampf seit 2009 auf ihre Art per
Internet fort; ihr Bericht darüber liegt auch auf Deutsch vor: „Vernetzt
euch!“ Die lange verfolgte Menschenrechtsaktivistin Sihem Ben Sedrine gibt
uns im neuen Büro ihres widerständigen Radio Kalima Einblick in die großen
Probleme der Etablierung freier Medien nach jahrzehntelanger Zensur.
Und die kämpferische Theatermacherin Leila Toubel, Dramaturgin am Theater
El Hamra, das bereits seit den 1920er Jahren als kritisches Kulturzentrum
fungiert, zeigt in ihrem jüngsten satirischen Stück „Monstranum S“ ein
illusionsloses Bild der Postrevolution – eine Art Monsterparade tunesischer
Wendehälse in über die Bühne hin- und herflitzenden Rollstühlen. Toubel
warnt uns im Gespräch vor dem taktisch gemäßigten Image der regierenden
Ennahda-Partei, von dem uns ein Mitglied des Parteivorstands am nächsten
Tag eine Kostprobe gab.
## Die Glorifizierung der alten Kämpfer
Der politische Islamismus unterscheidet sich laut Toubel nur graduell
inGemäßigte und sogenannte Salafisten, er trage faschistoide Züge und sei
nicht zu verwechseln mit der moslemischen Kultur, die auch die tunesische
Gesellschaft seit Jahrhunderten geprägt hat und in ihr weiterlebt, zum
Privatleben eines jeden gehörend oder auch nicht.
Dieses – vor allem in den Städten – verbreitete säkulare Verständnis der
Religion ist Resultat der forciert religionsneutralen Modernisierung des
Landes mit starker West-Orientierung durch Habib Bourguiba, den Sieger im
Unabhängigkeitskampf gegen Frankreich und Staatschef der Republik von 1959
bis 1987. Dessen Erziehungsdiktatur führte die Tunesier aus Analphabetismus
und Subalternität heraus und seit den 1970er Jahren zur Entwicklung einer
autoritären Marktwirtschaft mit gebildeter Mittelklasse in einer
Einparteienrepublik. Die mußte zunächst nicht durch ein Polizeisystem
diszipliniert werden, und das Militär spielte kaum eine Rolle.
Nachdem ein staatssozialistischer Ansatz zur genossenschaftlichen
Umgestaltung der Landwirtschaft in den 1960er Jahren gescheitert war – was
kommunistische Perspektiven bis heute desavouiert –, blieb die Entwicklung
seit Ende des 19. Jahrhunderts auf wenige Industriezentren im Umfeld des
Phosphatabbaus beschränkt, daneben Raffinerien, Maschinenbau und Textilien.
In den seit den 1980er Jahren virulenten Krisenerscheinungen (sogenannte
Brotunruhen) erhielten linke Kräfte wieder Auftrieb, die dann brutal vom
Polizeiapparat unterdrückt wurden, wie auch Islamisten. Die Absetzung
Bourguibas durch seinen Minister Ben Ali (1987) und dessen zunehmend
korrupte Clanherrschaft führte mit zur Stagnation im Lande und zu dessen
Auslieferungan die neoliberalen Kräfte des globalen Marktes.
## Besuch in Sidi Bouzid
In der seit je kaum entwickelten konservativen Agrargesellschaft des
Südenshatte sich Bourguibas Marginalisierung der Religion nicht durchsetzen
können. Der Aufschwung der Küstenregionen nach der Unabhängigkeit (mit 65
Prozent der Bevölkerung) erfolgte offensichtlich auf Kosten des
Landesinneren. Das heilige Kairouan, ältestes islamisches Zentrum im
Maghreb mit seinen 50 Moscheen, war denn auch die erste Stadt, die wir auf
der Busfahrt gen Süden erreichten.
Längs der Gebirgszüge des Atlas und vorbei an endlosen, überwiegend
privaten Kleinbauern gehörenden Olivenplantagen und mit Plastiktütenresten
übersäten Kakteenhecken (nach der Revolution kommt es vermehrt zu Streiks
im öffentlichen Dienst, auch bei der Müllabfuhr) ging es nach Sidi Bouzid,
jenem verschlafenen Landstädtchen, in dem sich der junge Gemüsehändler
Mohamed Bouazizi am 17. Dezember 2010 verbrannt hatte, was als Auftakt der
Revolution gilt. Doch er war nicht der erste, wie uns junge Lehrer und
Blogger im hellen, modernen Kulturzentrum erzählen. Sie zeichnen ein
trostloses Bild der anhaltenden Stagnation nach der Diktatur und der noch
immer fehlenden Entwicklungsperspektiven für gut 80 Prozent der lokalen
Bevölkerung, die jünger als 30 Jahre sind, schulisch gut gebildet, aber zu
52 Prozent arbeitslos (gegenüber 18 Prozent im Landesdurchschnitt).
Von der regierenden Ennahda erwarten sie keine Verbesserung der
wirtschaftlichen Situation mehr, ihr Vertrauen in Parteien ist gering, wie
politisches Bewußtsein überhaupt. Auch von den offiziellen Medienfühlen sie
sich vernachlässigt. So hoffen die jungen Leute allein auf „die Wirtschaft“
im Lande und setzen vorerst auf ihre Internet-Vernetzungen und auf
Entwicklungsprojekte nicht nur aus Europa, Deutschland ist mit einem
GIZProjekt dabei. Legale Ausreisemöglichkeiten haben sie nicht,
(Nicht-Geschäfts- )Reisen in die Schengen-Festung erfordern individuelle
Einladungen und hohe Bankkautionen – der monatliche Mindestlohn liegt im
ganzen Land bei 100 Euro.
## De Gewerschaftler haben viele Ideen
Die Verschärfung der Wirtschaftskrise im letzten Jahrzehnt hat nicht nur
die illegale Emigration übers Mittelmeer befördert, sondern auch
sozial-karitative Aktivitäten der bis 2011 nur im Untergrund agierenden
Islamisten. Sie wurden inzwischen zu Nutznießern einer Revolution, an der
sie selbst kaum Anteil hatten. Doch das Aufbrechen sozialer Strukturen fand
in der politischen Leere kein anderes Auffangbecken als eben die Religion.
Die hohe Arbeitslosigkeit ermöglicht es aus den Golfstaaten finanzierten
Extremisten, zahllose junge Männer zu bewaffnen und sie in den Kampf nach
Syrien zu schicken (man schätzt deren Zahl inzwischen auf Tausende) oder in
den Grenzschmuggel nach Libyen mit Waffen sowie mit von Tunesien
subventionierten Grundgütern.
Doch man warnt uns auch vor der Instrumentalisierung dieser Phänomene in
westlichen Medien. Vertreter der Einheitsgewerkschaft UGTT berichten in
ihrer Zentrale in Gafsa, der Hauptstadt der Phosphatminen, daß nach der
Revolution die Förderung um etwa 60 Prozent zurückgegangen ist. Von einst
15.000 Arbeitern (1990) sind heute noch 5.400 beschäftigt. Ab 2008 mehrten
sich Unruhen und Streiks, bei denen Aufständische von der Polizei
erschossen und Hunderte eingesperrt wurden. In den Chemiefabriken von
Redieff loderte seit langem ein Schwelbrand, denn hier ist durch fehlende
Umweltschutzmaßnahmen die Gesundheit der Menschen und der umliegenden
Landwirtschaft aufs Spiel gesetzt worden. Die Rateder Krebskranken ist
hoch; wertvolles Grundwasser wird für die Fabriken entnommen und sogar in
die Tourismusgebiete abgeleitet, anstatt moderne, schon entwickelte
Wassergewinnungsprojekte aus dem Grenzfluß zu Algerien oder sogar aus dem
Meer umzusetzen.
Man könne vieles tun, um das Landesinnere zu entwickeln und die
Ungleichheiten abzubauen, Tunesien habe viele Möglichkeiten, sagt uns ein
Lehrer auf dem Weg zur alten Oase von Gafsa – aber alles erfordere
Investitionen und neue, den lokalen Erfordernissen entsprechende Direktiven
kompetenter Administrationen.
## Biologische Datteln und alternative Touristen
Der junge belesene Betreiber einer Dattelplantage in Douz, demTor zur
Wüste, wo es seit März 2012 nicht geregnet hat, setzt lieber auf
Direktverkauf seiner Ernte übers Internet, und die jungen Leute, die im
verfallenen Höhlendorf Douriet ein romantisches Höhlenhotel betreiben,
warten auf alternative Touristen, die atemberaubende Ausblicke ins
Dahar-Gebirge erleben wollen.
Das landschaftlich vielfältige Tunesien mit seinem reichen (Welt-)
Kulturerbe und heute oft brachliegender Tourismus-Infrastruktur ist viele
Reisen wert, denn in der Tat ist nicht der Islam das Problem, sondern
dessen Nährboden:der soziale Sprengstoff Arbeits- und Hoffnungslosigkeit.
4 Jun 2013
## AUTOREN
Susanna Böhme-Kuby
## TAGS
Tunesien
Zivilgesellschaft
Reiseland Tunesien
Zehn Jahre Arabischer Frühling
## ARTIKEL ZUM THEMA
Nachruf auf tunesische Bloggerin: Die mit den Superkräften
Lina Ben Mhenni berichtete 2011 als eine der Ersten über die Anfänge des
Arabischen Frühlings. Nun ist die tunesische Bloggerin verstorben.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.