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# taz.de -- Kolumne Wirtschaftsweise: Die Medikamente von morgen
> Unterwegs auf günstigen Teststrecken: Früher wurden Medikamente gerne in
> der DDR getestet - heute läuft das in der U-Bahn.
Bild: Immer was los: in der U1.
Es gibt U-Bahn-Waggons, in denen ausschließlich Werbetafeln für
Weiterbildungsmaßnahmen und für Medikamententests hängen. Eine Werbung ist
von einer Biofirma, die Tester eines neuen Mittels gegen Depressionen auf
Johanniskrautbasis sucht. Eine andere ist von einer Firma, die im Auftrag
eines namhaften Arzneimittelherstellers laufend neue Versuchspersonen
rekrutiert. Bei der dritten geht es um das Testen eines neuen
Empfängnisverhütungsmittels, und bei der vierten sucht Bayer-Schering
„junge Frauen, Nichtraucherinnen, nach der Menopause“. Die fünfte Firma
umwirbt potenzielle Versuchskaninchen mit dem Satz: „Testen Sie schon heute
die Medikamente von morgen!“
Bereits in den Siebzigerjahren suchte der Westberliner Pharmakonzern
Schering immer wieder Leute, die seine neuen Medikamente testen. In meinem
Bekanntenkreis meldeten sich damals vor allem „Drogenexperten“ zu solchen �…
gut bezahlten – Versuchen. Einmal, weil sie immer neugierig auf neue
Drogen, und zum anderen, weil sie wegen dieses Hobbys ständig in Geldnot
waren. Es ging ihnen dabei um neue psychophysische Erlebnisse, auch wenn
die jeweilige Schering-Droge nicht dafür, sondern eher dagegen gedacht war.
## Umweg der Verschreibung
Sie wussten sehr wohl, dass „es ein Unterschied ist, ob ein kreativer
Mensch, der ein künstlerisches oder wissenschaftliches Ziel verfolgt,
Drogen zu Hilfe nimmt, um sein Ziel zu erreichen, oder ob ein Mensch über
den Umweg der ärztlichen Verschreibung eine Substanz nimmt, die von
Sozialingenieuren der Pharmaindustrie entwickelt wurde, um ihn in eine
Stimmung zu versetzen, die ihm hilft, die Realität zu verleugnen
beziehungsweise zu verdrängen“, wie der Drogenaufklärer Günter Amendt das
sagte.
Man weiß inzwischen, dass die meisten neuen „Wirkstoffe“ nicht gegen
bestimmte Krankheiten entwickelt werden, sondern diese mittels Tier- und
Menschenexperimenten erst noch gefunden werden müssen. Das erfolgreichste
Mittel in dieser Hinsicht war das US-Medikament Paxil – für das man nach
seiner Herstellung 1992 den neuen Begriff „Sozialangst“ erfand, gegen die
diese Droge wirken sollte. Der Pharmakonzern half, Selbsthilfegruppen von
„Sozialverängstigten“ zu gründen. Der für das Produkt verantwortliche
Direktor bei GlaxoSmithKline verkündete stolz: „Jeder Anbieter träumt
davon, einen unbekannten Markt zu entdecken und zu entwickeln. Genau das
gelang uns bei der Sozialangst.“
In der Le monde diplomatique berichtete 2010 der US-Philosoph Carl Elliott
über die „Riesengeschäfte“ mit den sogenannten klinischen Studien, in den…
man neue Medikamente an Menschen testet. Sie werden mehr und mehr von
Privatfirmen erstellt, die aus den Konzernen outgesourct wurden. Und diese
rekrutieren ihr Menschenmaterial vornehmlich in Osteuropa.
Der Anthropologe Kaushik Sunder Rajan erforschte in seinem Buch
„Biokapitalismus“ bereits 2009, dass und wie westliche Pharmakonzerne ihre
neuen Medikamente in Indien testen. Bei den Westberliner
Medikamententestern aus meinem Mittelschichtfreundeskreis kann man
vielleicht noch von Freiwilligkeit reden – nicht jedoch bei den indischen
Arbeitslosen, die zudem meist gar nicht darüber aufgeklärt werden, dass an
ihnen ein neues US-Medikament getestet wird. Die Pharmakonzerne und ihre
Helfershelfer, die die Menschen als Versuchskaninchen rekrutieren, werden
immer dreister: Bioethiker des National Institute of Health verkündeten, im
Grunde sei die Teilnahme an klinischen Tests für jeden Staatsbürger eine
moralische Pflicht.
Die taz berichtete kürzlich über das soeben in den USA herausgekommene
psychiatrische Handbuch „DSM-5“ mit den neuesten psychischen Störungen, zum
Beispiel der „Disruptive Mood Dysregulation Disorder“ – eine neue
Bezeichnung für Wutausbrüche. Der Psychiater Allen Frances hat an der
Vorgängerversion mitgewirkt. „Wir sollten keine Pillen dagegen nehmen,
Menschen zu sein“, sagt er heute. „Neue Diagnosen sind gefährlicher als
neue Medikamente“ – denn seien sie erst einmal in der Welt, würden sie auch
aktiv diagnostiziert. So wächst die Zahl der krank gelabelten, derer mit
Stigma.
Der Spiegel berichtete gerade: Bis zum Mauerfall testeten die westdeutschen
Pharmakonzerne Bayer und Hoechst ihre neuen Medikamente in der DDR an „mehr
als 50.000 Patienten“. Denen wurden „die Risiken“ offenbar ebenso
„verschwiegen“ wie heute den indischen Arbeitslosen. Hier wie dort gab es
dabei „viele Todesfälle“ (2011 in Indien 438). Aber es waren und sind
„günstige Teststrecken“. Dies gilt nun anscheinend auch für die Berliner
U-Bahn – und ihre inzwischen verarmten Nutzer
28 Jun 2013
## AUTOREN
Helmut Höge
## TAGS
DDR
Schwerpunkt Korruption
Arzneimittelstudien
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