| # taz.de -- Schön utopisches Musikfestival: Weltflucht und Politik | |
| > In diesem Jahr haben sich die Musiktage Hitzacker dem Thema "Traum" | |
| > verschrieben. Seine utopischen Facetten präsentiert das Programm ebenso | |
| > wie allerlei Romantik. Aber auch die Sentimentalität des neu tönenden | |
| > Komponisten Arnold Schönberg. | |
| Bild: Da kommt beim Festival Walk Musik rein: Elbauen bei Hitzacker. | |
| Es klingt erst mal so leicht: ein Traum. Beruhigend, weltabgeschieden und | |
| federleicht. Aber ist es wirklich leicht - das Phänomen zu fassen zu | |
| bekommen? Ist alles klar, wenn man etwa einem Musikfestival wie dem im | |
| niedersächsischen Hitzacker das Motto "Träume" gibt? | |
| Nein, da gibt es einiges zu unterscheiden: den Tag- und den Nachttraum, | |
| Wunschtraum, Flashback und Utopie. Den Traum während des Schlafs zum | |
| Beispiel: kann man bislang weder neurowissenschaftlich noch psychologisch | |
| so recht greifen. Die Wissenschaft ist da noch nicht sehr weit. | |
| Komplexes Zusammenspiel | |
| Den Tagtraum und sein alptraumhaftes Gegenstück, den Flashback, lösen | |
| Gerüche oder Bilder aus - oder Klänge. An dieser Stelle wird die | |
| musikalische Komponente interessant, wie die Neuropsychologin Daniela | |
| Sammler in Hitzacker erläutern wird (siehe Interview). Der Wunschtraum und | |
| die Utopie schließlich sind die einzigen gezielten Entwürfe, die sogar | |
| politisch sein können. Sie erwachsen aus einem komplexen Zusammenspiel aus | |
| Idee, Reflexion und "kreativem Flow". | |
| Um dieses Wechselspiel - und um die Frage nach der Nahtstelle zwischen | |
| Weltflucht und Politik - geht es Carolin Widmann. "Ich selbst kann ohne | |
| Utopie nicht leben", sagt die Intendantin der Musiktage Hitzacker. "Und es | |
| ist doch immer noch und wieder wichtig, aufzubrechen und den eigenen | |
| Träumen und Idealen zu folgen." | |
| Recht hat sie, nicht nur im Prinzip, sondern auch in Bezug auf die Musik: | |
| Das Irrationale, der Traum als Quelle für Literatur, Musik und Kunst, das | |
| ist ein bis heute lebendiges Konzept der Romantik. Romantische Musik | |
| wiederum, hoch emotional und das Übernatürliche, Mythische, die als | |
| spirituell empfundene Natur evozierend, hörte im 18. Jahrhundert | |
| hauptsächlich das Bürgertum - als Weltflucht, der ja auch eine Art Aufbruch | |
| ist. Die weniger Betuchten erlebten zur selben Zeit die beginnende | |
| Industrialisierung und damit das Entstehen einer anonymeren | |
| Massengesellschaft. Hier konkrete Armut, dort Romantisch-Unaussprechliches. | |
| Da ist es konsequent, dass die Musiktage nun mit dem "Appel Interstellaire" | |
| beginnen, dem "Interstellaren Ruf" des 1992 verstorbenen Olivier Messiaen. | |
| Der Franzose war nicht nur zutiefst katholisch, sondern auch | |
| pantheistisch-romantisch. Sein Stück für Solo-Horn ist der Ruf des | |
| einsamen, sich hilflos fühlenden Menschen ins All hinein, es transportiert | |
| aber auch eine sehr irdische Antwort: Tausende Vogelstimmen. Trost bietet | |
| also auch hier: die Natur. | |
| Selbst der Komponist Arnold Schönberg, eigentlich einer "unromantischen" | |
| Dissonanz verpflichtet, war nicht frei von melancholischen Anwandlungen: | |
| "Pierrot Lunaire" heißt ein Gedicht des symbolistischen Dichters Albert | |
| Giraud, auf das Schönberg wiederum ein Stück schrieb, das nun in Hitzacker | |
| zu hören sein wird. Es ist ein Melodram über einen traurigen Mond-Clown, | |
| der sich an Gestirnen und dem "Duft aus Märchenzeit" berauscht. | |
| Daneben im Festivalprogramm ist unter anderem Robert Schumann, sozusagen | |
| der Pflicht-Romantiker. Und auch die - in der Romantik erfundene - | |
| Verbindung von Text und Musik wird geboten: Bei den Musiktagen wird auch | |
| vorgelesen, etwa Marin Luther Kings "I Had a Dream" aus dem Jahr 1963, die | |
| wichtigste Rede der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung. | |
| Unterdrückte Individualität | |
| Vom seinerzeit konkurrierenden politischen System erzählt die Geschichte | |
| eines anderen Textes, der in Auszügen zum Vortrag kommt: In Jewgeni | |
| Iwanowitsch Samjatins Roman "Wir" aus dem Jahr 1920 geht es um eine | |
| Gesellschaft, die jede Individualität unterdrückt. Beißend kritisierte der | |
| einst überzeugte Oktober-Revolutionär Samjatin (1884-1937) die entstehende | |
| Sowjetunion. | |
| Er erntete Hetzkampagnen und Schreibverbot. Erst 1988 erschien der Roman, | |
| der George Orwell und Ray Bradbury beeinflusste, offiziell auf Russisch. | |
| Allerdings, sagt Intendantin Widmann: In den Untergrundbewegungen des | |
| einstigen Ostblocks dürfte er schon weit früher wichtig gewesen sein. | |
| ## Sommerliche Musiktage Hitzacker: 27. Juli bis 4. August | |
| 30 Jul 2013 | |
| ## AUTOREN | |
| Petra Schellen | |
| ## TAGS | |
| Hitzacker | |
| Musikfestival | |
| Traum | |
| Schwerpunkt Utopie nach Corona | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA |