| # taz.de -- Integration an Schulen: „Politik ist mehr als Bundeskanzlerin“ | |
| > In Berlin und Stuttgart versuchen Dialogmoderatoren junge Migranten zu | |
| > erreichen. Es geht nicht nur ums Grundgesetz, sondern um Lebensfragen. | |
| Bild: Wieviel Spaß Politik machen kann, demonstriert dieser ukrainische Parlam… | |
| BERLIN-NEUKÖLLN taz | Der Stuhlkreis ist nicht ganz rund, aber immerhin, es | |
| gibt keine Tische, so wie sonst hier im Klassenzimmer. Alles ein bisschen | |
| lockerer, unkonventioneller. „Wie geht’s euch?“, fragt Siamak. Er sitzt m… | |
| dem Rücken zur Tafel, auf der ein paar mathematische Formeln stehen und | |
| blickt in die Runde. „Gibt’s was Neues?“ | |
| Otto-Hahn-Schule in Berlin-Neukölln. Einer dieser Stadtteile, die gern als | |
| Problembezirk bezeichnet werden. Der Anteil der Bewohner mit | |
| Migrationshintergrund liegt bei etwa 40 Prozent. Viele Menschen mit | |
| unterschiedlichen kulturellen Hintergründen also. Das ist in der | |
| Otto-Hahn-Schule, einer Sekundarschule mit gymnasialer Oberstufe, nicht | |
| anders. | |
| Es ist Mittwochmorgen, Ethikunterricht in der 9. Klasse. Statt eines | |
| Lehrers sitzen Siamak Ahmadi und Hassan Asfour im Klassenzimmer. Die beiden | |
| sind Dialogmoderatoren. Man kann sie sich als eine Mischung aus Animateuren | |
| und pädagogischen Gruppenleitern vorstellen. Sie gehen in Schulen und | |
| versuchen, Jugendliche für politische Themen zu sensibilisieren und sie zur | |
| gesellschaftlichen Teilhabe zu motivieren. | |
| ## „Ob es was Neues gibt? Nö“ | |
| „Alles ganz cool so weit“, sagt Hamsa. Der 15-Jährige wippt auf dem Stuhl, | |
| den rechten Arm betont lässig über die Lehne gelegt. Heute geht es um | |
| Vorbilder und darum, was die Jugendlichen so toll an ihnen finden. Hamsa | |
| will erst mal nichts sagen, Deniz soll anfangen. Deniz sitzt ihm gegenüber | |
| am Fenster, die Beine in bunten Turnschuhen mit offenen Schnürsenkeln. | |
| Er sagt, sein Vorbild sei Muhammad Ali, der Jahrhundertboxer aus den USA, | |
| der aus armen Verhältnissen kam und sich hochgearbeitet hat. „Wegen ihm | |
| habe ich angefangen, selbst zu boxen, ich bewundere ihn“, sagt Deniz, | |
| dessen Eltern aus der Türkei nach Deutschland kamen. | |
| Die Gruppe ist klein, es ist die halbe Klasse. Die andere Hälfte sitzt in | |
| einem anderen Raum mit zwei anderen Dialogmoderatoren. Mit weniger Schülern | |
| kann man leichter über persönliche Themen sprechen, man kann individueller | |
| auf Schüler eingehen. | |
| ## Soziale Kompetenzen | |
| Dialogmoderatoren arbeiten nicht nur im Stuhlkreis, sondern auch in | |
| kreativen Projekten, bei Ausflügen und Diskussionen mit eingeladenen | |
| Gästen. Kernstück der Arbeit von Asfour und Ahmadi: Der Dialog und die | |
| Diskussion mit den Schülern – daher auch der Name. | |
| Die Moderatoren hören zu und fragen nach, sie verbessern, wenn Dijwar | |
| wieder mal die bestimmten Artikel verwechselt oder wenn Mirza ein Wort | |
| benutzt, das es im Deutschen gar nicht gibt. Sie sind keine Lehrer, aber | |
| sie helfen. Der Ton ist freundschaftlich, die Schüler reden wild | |
| durcheinander, dann wieder geht es ganz gesittet zu. Eine Schulklasse eben. | |
| Der Unterricht in der 9. Klasse der Otto-Hahn-Schule ist Teil des Programms | |
| „Dialog macht Schule“, das Siamak Ahmadi und Hassan Asfour leiten. Es ist | |
| ein langfristiges Bildungsprogramm für Schulen, das Persönlichkeitsbildung, | |
| Integration und politische Bildung zusammenbringt. | |
| Es geht darum, mit den Schülern soziale und demokratische Grundkompetenzen | |
| zu üben. Zuhören, die eigene Perspektive wechseln, sich eine Meinung | |
| bilden, diese Meinung vertreten. Sie sprechen über Identität und über | |
| Heimat, diskutieren über Rollenbilder und Gerechtigkeit. Aber auch über | |
| Religion und den Nahostkonflikt. | |
| ## Ein festes Programm etablieren | |
| Bevor aus Asfour und Ahmadi Geschäftsführer wurden, haben die beiden am | |
| Modellprojekt „Jugend, Religion, Demokratie“ mitgearbeitet, das von der | |
| Bundeszentrale für politische Bildung und der Robert Bosch Stiftung | |
| initiiert wurde. Doch ein Modell allein reichte ihnen nicht. „Wir wollten, | |
| dass dieses Modell zu einem festen Programm wird“, sagt Asfour. | |
| Deshalb haben sie im März eine GmbH gegründet, das ist ein gemeinnütziges | |
| Unternehmen, und damit aus dem Modellprojekt einen eigenständigen Träger | |
| politischer Bildung gemacht. Insgesamt arbeiten 22 Dialogmoderatoren – | |
| meist mit eigenem Migrationshintergrund – ehrenamtlich an Schulen in Berlin | |
| und Stuttgart. Und es sollen noch mehr werden. | |
| Asfour und Ahmadi sind Anfang 30, sie haben Interkulturelle Kommunikation | |
| und Psychologie studiert und sitzen mittwochs ab 8 Uhr in der | |
| Otto-Hahn-Schule. Hier liegt der Anteil der Schüler mit | |
| Migrationshintergrund bei 87 Prozent, sie kommen aus über 40 verschiedenen | |
| Ländern, vor allem aus der Türkei und dem arabischen Raum. | |
| ## Engagierte Schüler | |
| Vielleicht einer der Gründe, warum die Bundeszentrale für politische | |
| Bildung gerade auf diese Schule zukam, als es darum ging, neue Wege zu | |
| finden, Jugendlichen aus Einwandererfamilien politische und | |
| gesellschaftliche Themen näherzubringen und ihnen bewusst zu machen, dass | |
| auch sie zu der Gesellschaft gehören, in der sie aufgewachsen sind. Das ist | |
| vier Jahre her. | |
| Seitdem kommen Dialogmoderatoren in die Klassen. Es fing mit einer | |
| Arbeitsgemeinschaft in der Oberstufe und mit einem Wahlpflichtfach in der | |
| 9. Jahrgangsstufe an. Politische Bildung, hieß das damals. Jetzt ersetzt | |
| „Dialog macht Schule“ einmal pro Woche den Ethikunterricht in der 9. | |
| Klasse. | |
| Anfangs sei sie skeptisch gewesen, sagt Gabriele Holz, seit 2005 Leiterin | |
| der Schule. Sie hätte nicht geglaubt, dass man die vielen kulturellen | |
| Hintergründe der Schüler alle unter einen Hut bekommt. Im Schulalltag ist | |
| das oft unmöglich. „Ich dachte, dafür ist das alles hier zu vielschichtig.�… | |
| Aber es funktioniert. „Die Schüler sind viel engagierter geworden“, sagt | |
| auch der stellvertretende Leiter Günter Jungwirth. | |
| ## „Sie verstehen uns halt,“ sagt eine Schülerin | |
| Die Schüler selbst sagen, sie hätten schon viel gelernt. Über Politik und | |
| gesellschaftliche Zusammenhänge. Auch deshalb, weil sie mit den | |
| Dialogmoderatoren viel offener reden als mit den Lehrern. Ahmadi und Asfour | |
| sind nur ein paar Jahre älter – und haben ihre eigene Migrationsgeschichte. | |
| Ahmadis Familie stammt aus dem Iran, Asfours Eltern kommen aus dem Libanon. | |
| Sie kennen das komische Gefühl, wenn Lehrer in der Schule über die deutsche | |
| Gesellschaft sprechen und sie merken, dass sie gar nicht so ganz | |
| dazugehören. „Dieses ewig Zerrissensein zwischen der Kultur zu Hause und | |
| der deutschen Kultur im Alltag, das ist nicht leicht. Für die Lehrer nicht, | |
| aber für die Schüler auch nicht“, sagt Asfour. | |
| „Die Dialogmoderatoren verstehen uns halt.“ Asya ist 15, ihre Eltern kommen | |
| aus der Türkei, und sie sagt, dass sie mit Siamak und Hassan endlich mal | |
| über die Dinge reden kann, die sie interessieren. | |
| Sie will nicht nur über Ehre und Religion sprechen, über die Dinge, an die | |
| viele zuerst denken, wenn es um die Integration von Kindern aus | |
| Einwandererfamilien geht. Sie will über Mode reden, die engen Hipsterjeans | |
| für Jungs und die gebatikten Leggins für Mädchen, mit denen in Neukölln | |
| alle herumlaufen. Es geht um Liebe und Freundschaft, um schlechte Noten und | |
| den Lehrer, der neulich so unfair war. Um Alltag eben. | |
| Dass all diese Themen irgendwie auch politisch sind, merken die Schüler | |
| erst viel später. Politik, das hat für viele vor allem mit der großen | |
| Politik zu tun, mit den Parteien und mit Gesetzen, die sie nicht verstehen. | |
| „Dass das T-Shirt von H & M in Bangladesch hergestellt wird und die | |
| Arbeiter in den Textilfabriken unter schlimmem Bedingungen nähen müssen, | |
| bringen wir ihnen schrittweise im Dialog, bei Diskussionen und Projekten | |
| näher“, sagt Asfour. | |
| „Politik, das hat nicht nur was mit Wahlen zu tun“, sagt Dijwar. Das habe | |
| er inzwischen kapiert. | |
| ## Die Dialogmoderatorenkommen an die Schüler ran | |
| Erstaunlich, findet auch der Klassenlehrer. „Es ist bemerkenswert, wie viel | |
| vernünftiger die Schüler reden, wenn sie mit den Dialogmoderatoren | |
| sprechen“, sagt Manfred Ludwig. Das würde er in seinem Unterricht nicht | |
| erleben, nicht in dieser Klasse. | |
| Es gebe immer mal wieder Probleme, viele Schüler kämen oft gar nicht zum | |
| Unterricht, würden schwänzen, dazu die ganzen Aggressionen untereinander. | |
| „Wir als Lehrer kommen an die Schüler nicht immer ran – die | |
| Dialogmoderatoren schon. Zumindest in diesem geschützten Raum der | |
| Unterrichtsstunde funktioniert das.“ | |
| Finanziert wird „Dialog macht Schule“ noch von der Robert Bosch Stiftung | |
| und der Bundeszentrale für politische Bildung. Schrittweise soll die | |
| Förderung aber weniger werden. „Das Programm braucht Förderer“, sagt | |
| Asfour. | |
| Dass das Programm funktioniert, belegen nicht zuletzt die Anfragen, die bei | |
| den beiden Geschäftsführern auf dem Schreibtisch in ihrem Büro in | |
| Berlin-Wedding landen. In der Heinrich-Mann-Schule werden sie im kommenden | |
| Schuljahr den Ethikunterricht in allen drei siebten Klassen übernehmen. In | |
| der Albrecht-Dürer-Schule sind es zwei achte Klassen, die | |
| Walter-Gropius-Schule startet mit einer Oberstufen-AG. In der | |
| Otto-Hahn-Schule kommt eine Klasse dazu. Anfragen kommen auch aus den | |
| Berliner Stadtteilen Wedding und Kreuzberg. | |
| Dann werden Hassan Asfour und Siamak Ahmadi wieder in einem Stuhlkreis mit | |
| Schülern sitzen, Rollenspiele machen, sie werden diskutieren und streiten, | |
| motivieren und den Jugendlichen zeigen, dass politische Bildung und | |
| gesellschaftliches Engagement nicht unbedingt nur etwas mit der | |
| Bundeskanzlerin zu tun haben. | |
| 1 Aug 2013 | |
| ## AUTOREN | |
| Steffi Dobmeier | |
| ## TAGS | |
| Bildung | |
| Duale Ausbildung | |
| Kitaplätze | |
| Deniz Yücel | |
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