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# taz.de -- Parteiloser Kandidat Voss: Der Freihänder
> Karl Ulrich Voss will in den Bundestag. Er ist praktisch chancenlos – und
> kämpft trotzdem alleine. Ihm geht es um anderes als um die Macht
Bild: Ein Mann. Ein Rad. Eine Partei: Karl Ulrich Voss in seinem Wohngebiet.
BERGISCH GLADBACH/BURSCHEID taz | Er hat doch alles. Hinterm Haus von Karl
Ulrich Voss, graue Haare, sonore Stimme, Lachfalten, geht der Blick auf
grüne Wiesen. Hier lebt der 62-Jährige mit seiner Frau, die drei Kinder
sind erwachsen. Lässt seine Arbeit ihm die Zeit, dann hütet er seine erste
Enkelin. In seiner Freizeit hält er sich durch Einradfahren fit und
repariert alles, „was nicht bei drei auf den Bäumen ist“. Warum also tut
Voss sich diese Tortur an? Und warum lächelt er so zufrieden, wenn er sagt,
„Ich bin der erste Einzelkandidat im Rheinisch-Bergischen Kreis seit der
letzten Eiszeit“?
Voss breitet seine Zettel auf dem Wohnzimmertisch aus. Leserbriefe an die
FAZ, ein Beitrag für eine juristische Zeitschrift, die Liste seiner
Wahlkampfthemen. Erstens, zweitens, drittens. Voss ist Doktor der
Rechtswissenschaften und arbeitet im Bonner Bundesforschungsministerium.
Das schult. Während er erzählt, was ihn zur Kandidatur für den Bundestag
bewogen hat, drängt sich Marco heran, ein alter Dalmatiner auf der Suche
nach Süßem. Voss streichelt ihm über den Kopf. Lächelnd sagt er: „Hier
gibt’s nichts für dich, wirklich nicht.“ Dasselbe könnte Voss sich selbst
sagen.
In der Geschichte der Bundesrepublik hat es seit 1949 kein parteiloser
Direktkandidat mehr in den Bundestag geschafft. Karl Ulrich Voss kämpft
trotzdem.
„Die Parteien“, heißt es in Artikel 21 des Grundgesetzes, „wirken bei der
politischen Willensbildung des Volkes mit.“ Heute klingt dieser Satz
weltfremd. Die etablierten Parteien haben die Macht im Land unter sich
aufgeteilt. Ihre Vertreter sitzen nicht nur in Regierung und Parlament,
sondern auch in den Gremien der öffentlich-rechtlichen Sender, in
Aufsichtsräten und Vorständen großer Konzerne. Peter Müller, einst
CDU-Ministerpräsident, trägt die Richterrobe des Bundesverfassungsgerichts.
Deutschland ist ein Parteienstaat.
Karl Ulrich Voss’ Kandidatur zeigt, wie die Demokratie in Deutschland im
Jahr 2013 funktioniert. Sie offenbart nicht nur die Doppelmoral von
Politikern, die nach mehr privatem Engagement rufen – aber bitte nicht in
der Bundespolitik. Sie beleuchtet auch die Doppelmoral von Bürgern, die den
Einfluss der Parteien aufs öffentliche Leben verdammen. Dieselben Bürger
aber würden keinen Parteilosen wählen, denn der hätte ja keinen Einfluss.
## Kreuzzügler ist er nicht
Voss ist das Gegenteil eines Kreuzzüglers gegen „die da oben“. Seit fast
einem Vierteljahrhundert ist er Beamter im Bundesforschungsministerium. Vor
vier Jahren kandidierte er als Parteiloser fürs Amt des Bürgermeisters von
Burscheid – und er errang fast 11 Prozent der Stimmen. Darauf ist er stolz.
Wenn er von seiner Kandidatur spricht, werden die Lachfalten um die Augen
tiefer. Er weiß: Was er sich antut, betrachten die meisten Menschen als
Zeitverschwendung. Aber er will in keiner Partei sein. Seine Vorfahren,
deutet er an, waren in der NSDAP. „Das reicht jedenfalls für meine
Generation.“ Ihm geht es darum, „Licht und Leben“ in die Demokratie zu
bringen. „Wenn ich in einer Demokratie lebe“, sagt er und hebt die Arme,
„dann will ich es auch spüren.“
Deshalb redet er über Inhalte. Voss ist für die doppelte
Staatsbürgerschaft, die Wehrpflicht – und gegen Auslandseinsätze der
Bundeswehr. „Wenn Verteidigungsminister de Maizière im Interview sagt, man
möge die Sicherheitspolitik aus dem Wahlkampf heraushalten, dann kommt mir
die Galle hoch.“ Mehr als zwanzig Jahre nach den ersten Bundeswehreinsätzen
außerhalb des Nato-Gebiets fehle noch immer eine Grundgesetzänderung, die
sie erlaube. „Manche wollen das Thema zum Tabu erklären.“ Voss stört, dass
sich niemand daran stört.
Auch nicht die Menschen im Rheinisch-Bergischen Kreis, nordöstlich von
Köln. Hier sind Voss’ Wahlkreis und seine Heimat. Trotzdem hat er 224
Mitbürger dazu gebracht, seine Kandidatur per Unterschrift zu unterstützen.
Zweihundert gültige Unterschriften brauchen Einzelbewerber, damit Bürger
sie auf dem Wahlzettel ankreuzen dürfen. In einem Anzeigenblatt hat Voss
sein Programm samt Unterstützungsvordrucken verteilen lassen. Das hat ihn
mehr als 1.200 Euro gekostet. Alle paar Tage schreibt er einen neuen
Blog-Eintrag.
Nach eigener Aussage hat Voss 1.500 Haushalte aufgesucht. Kaum jemand
wollte sofort unterschreiben. Ein normaler Bürger, der kandidiert? Das ist
doch nicht normal.
Um aufzufallen, fährt er gern auf dem Einrad vor. Er hat sich das
Balancieren vor ein paar Jahren selbst beigebracht. Immer wieder ist er
aufs Rad gestiegen, gestürzt, wieder aufgestiegen. „Nach zwei, drei Monaten
geht’s im Schlaf“, sagt er. „Der Hintern ist viel intelligenter, als man
glaubt.“ Das Einradfahren versteht er auch symbolisch: Selbstständigkeit
ist reine Übungssache.
„Ich sehe die Bürger als einen riesenhaften Computer“, sagt Voss. Gemeinsam
könnten sie Lösungen erarbeiten, auch fürs Problem der Bundeswehreinsätze.
Voss möchte den Leuten nicht zeigen, was er alles kann. Er möchte ihnen
zeigen, was sie können.
Beispielsweise den Piraten. Voss und seine Frau Cora setzen sich in den
Familien-Van. Gemeinsam geht es zu deren Stammtischtreffen im nahe
gelegenen Bergisch Gladbach. Er hat sich selbst eingeladen.
Cora Lukas-Voss, eine ehemalige Lehrerin, lenkt den Wagen durch den
Spätsommer. Von den Wahlplakaten am Straßenrand lächelt Voss’ ärgster
Konkurrent, der Direktmandatsinhaber von der CDU, Wolfgang Bosbach. Auf
manchen steht „Unser Bester“. Auf anderen „Wir für WoBo“. „Wir für …
war wohl zu lang und missverständlich.
Bosbach ist wieder klarer Favorit. Der heute 61-Jährige sitzt seit 1994 im
Bundestag. Vor vier Jahren errang er 50 Prozent der Erststimmen. Seine
innenpolitischen Ansichten verbreitet er in etlichen Talkshows. Seit er
2005 nicht mit einem Ministerposten bedacht wurde, leistet er sich mitunter
eine von der Kanzlerin abweichende Meinung. Deshalb gilt er in
Talkshowredaktionen als „CDU-Rebell“. Bosbachs politische Ansichten sind
fast so bekannt wie der Umstand, dass er unheilbar an Prostatakrebs
erkrankt ist. „WoBo“ ist nicht angreifbar.
## Seine letzte Chance
Ankunft beim Stammtischtreffen auf der Terrasse einer Gaststätte. Voss
fragt sich selbst: „Sind wir hier richtig?“ Nur zwei Piraten sind gekommen.
Voss hat einen dicken Aktenordner mitgenommen. Aufsätze, Leserbriefe,
Programmpunkte. Erstens, zweitens, drittens. Er verteilt Zettel mit seinem
Wahlprogramm. Die Piraten legen es beiseite und nippen am Bier.
Die Piraten haben keinen Direktkandidaten nominiert. Einzelbewerber Voss
windet sich, als er sagt: „Wenn Sie in der Not wären, evidenzbasiert eine
Erststimme zu vergeben …“ Dann lacht er. Eine taktische Allianz zu
schmieden, ist ihm fremd.
„Gegen Bosbach“, antwortet Pirat 1, „braucht man gar nicht erst
anzutreten“. Voss’ Augen weiten sich, und er sagt: „Wenn man nicht meint,
der Weg ist das Ziel.“ Den Piraten ist so viel Freude am Sisyphos-Dasein
nicht geheuer. Als ginge es um etwas Peinliches, sagt Pirat 1: „Darf ich
Sie fragen, was Sie zur Kandidatur bewogen hat?“ Voss antwortet: „Es macht
Spaß.“ Unsicheres Kopfnicken.
Am nächsten Abend hat Voss seine letzte Chance. In einem Jugendzentrum in
Burscheid treffen sechs Wahlkreiskandidaten bei einer Podiumsdiskussion
aufeinander. Hitzestau im Dachgeschoss, Rod Stewarts Jazz-Album in
Dauerschleife.
Der Kandidat der AfD ist nicht eingeladen, der von der NPD auch nicht. Voss
hat sich wieder selbst eingeladen.
Links vom Moderator sitzt Voss, rechts Bosbach. Drumherum sitzen die
Vertreter von SPD, Grünen, FDP und Linken. Alles Männer. Das Publikum, etwa
50 Leute, ist grauhaarig. Die Scheinwerfer strahlen Voss ins Gesicht, er
ist nervös.
## „Du bist gar keine Partei“
Als er ins Mikro spricht, vermeidet er alles, was wie Anbiederei wirken
könnte. Kein Wort zu seinem Doktortitel, zu seinen drei Kindern oder der
kleinen Enkelin. Stattdessen sagt Voss: „Ich bin offensichtlich die
kleinste Partei hier.“ Der Moderator kontert: „Du bist gar keine Partei.“
Der Kandidat listet seine Ziele auf. Zum Schluss sagt er wieder: „Ich
finde, dass die Bürger wie ein riesenhafter Computer sind.“ Im Dunkeln des
kleinen Saals heben sich nur wenige Hände zum Applaus. Dann ist „WoBo“
dran.
Bosbach, blaues Hemd, feste Stimme, rheinischer Akzent, vollbringt ein
Kunststück. Der CDU-Mann kritisiert das Betreuungsgeld – und verteidigt es
zugleich. Erst sei er ein Gegner der Transferleistung gewesen, sagt
Bosbach. Doch aus Ärger über deren „Verteufelung“ habe er seine Meinung
geändert. Zum Schluss ruft er in den Saal: „Ich möchte nicht in einem Staat
leben, der Menschen vorschreibt, wie sie ihre Kinder erziehen.“ Jubel.
## Kein Lächeln mehr
Ein Mann, der vom Klo zurück kommt, fragt seinen Sitznachbarn: „Macht der
Wolfgang wieder die Leute verrückt?“ Es klingt wie ein Kompliment.
Am nächsten Tag wird die Lokalzeitung titeln: „Souveräner Platzhirsch
Bosbach“. Untertitel: „In der Diskussion zeigte der CDU-Abgeordnete
Wolfgang Bosbach den anderen Kandidaten, wie es geht.“
Als der Abend dem Ende zugeht, ist Karl Ulrich Voss still geworden. Die
Bürger wollen kein „riesenhafter Computer“ sein. Vom Podium aus blickt Voss
starr in den dunklen Saal. Er lächelt nicht mehr.
16 Sep 2013
## AUTOREN
Matthias Lohre
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