| # taz.de -- Die Wahrheit: Der Einbildungsbürger | |
| > Immer häufiger kommt es zu Bildungsterror im Namen der Halluzinenzija. | |
| > Porträt eines gemeingefährlichen Bildungsbürgers. | |
| Bild: Bildungsterrorist bei seinem elitären Werk | |
| Karl von Rost muss sich wie ein Holzwurm fühlen. Zusammengesunken hockt er | |
| in seinem getäfelten Arbeitszimmer und starrt die endlosen Bücherwände an. | |
| In Gedanken verloren, zwirbelt er seinen nikotinstarren Schnurrbart und | |
| knurrt vor sich hin. Dann schlägt er mit aller Wucht auf den Schreibtisch, | |
| auf dass die Aschenbecher fast vom Tisch hüpfen. Er reißt den Kopf herum | |
| und keift: „Dieses Land braucht eine neue Elite!“ | |
| Von Rost ist wohl der letzte seiner Art, ein Bildungsbürger alter Schule | |
| und dennoch gefangen im Strudel des Belanglosen, vergessen im seichten | |
| Alltag aus Berieselung und Stumpfsinn. Von Rost ist auf dem besten Weg vom | |
| Bildungs- zum Einbildungsbürger zu werden, ein Weg, den schon so viele vor | |
| ihm beschreiten mussten. | |
| „Wer denkt, fliegt raus“, murmelt er resigniert. „Ich gehöre schon zur | |
| Halluzinenzija“, sagt er dann laut zu sich selbst und weiß doch, dass ihn | |
| längst niemand mehr versteht. Dennoch lässt er seine Weisheit noch einmal | |
| aufblitzen und spielt ironisch auf die russische Bildungsschicht des 19. | |
| Jahrhunderts an. Dann schüttet er den Rest seines edlen Cognacs in einem | |
| Zug hinunter. | |
| Nur zwei Tage später explodiert vor der Aula der | |
| Herbert-Singer-Gesamtschule das Büchereimobil der Stadt. Angesengte Seiten | |
| wirbeln umher. Asche, die einst Goethes „Faust“ gewesen ist, rieselt herab. | |
| Es herrscht heller Aufruhr. Wie durch ein Wunder wird niemand verletzt, das | |
| Büchereimobil war komplett leer. Schon bald wird klar: Es war ein Anschlag. | |
| Experten sehen gleich einen Zusammenhang mit dem neu aufgekommenen Phänomen | |
| des Bildungsterrors und vermuten Karl von Rost als Drahtzieher dahinter. | |
| ## Dustin Otter ist in der Stadt | |
| Mehrfach hatte er der Stadt gedroht, gegen das verhasste Büchereimobil | |
| vorzugehen. Es sei jämmerlich und eine Beleidigung für gebildete Menschen. | |
| Von Rost ist jedoch mittlerweile untergetaucht, und so findet das SEK beim | |
| Sturm auf sein Arbeitszimmer nur einen auf Büttenpapier geschriebenen | |
| Brief, der in wohl überlegten Worten grausame Vergeltung ankündigt. | |
| Die breite Masse kriegt von dem ganzen Geschehen derweil kaum etwas mit – | |
| trotz seitenlanger Berichterstattung in den Zeitungen und einer | |
| Sondersendung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Kein Wunder, Dustin | |
| Otter ist in der Stadt, und niemand will das Konzert des Teenieschwarms | |
| verpassen. Das ist genau die Gelegenheit, auf die Karl von Rost gewartet | |
| hat. | |
| Am Abend steigt Dustin Otter vor der Coco-Loco-Konzerthalle aus seiner | |
| übergroßen Playmobil-Limo und wirft einen gelangweilten Blick auf die | |
| wartende Fanmeute. Und kaum hat der Kopf wieder gewendet, steckt dieser | |
| schon in einem großen weinroten Brokatsack und wird mit einer goldenen | |
| Kordel verschnürt. „Hab ich dich, Volksverdummer!“, freut sich Karl von | |
| Rost, der sich als Otters Chauffeur ausgegeben hatte und mit einem kleinen | |
| Häufchen Bildungsterroristen, die Otters Bodyguard spielten, angerückt war. | |
| Schon eine Dreiviertelstunde später findet sich Dustin Otter angebunden an | |
| eine Schulbank im verlassenen Klaus-von-Unhold-Gymnasium wieder. Um ihn | |
| herum zwei Dutzend andere gekidnappte Teeniestars, geknebelt, aber fein | |
| säuberlich in Schuluniformen gesteckt. An der Tafel steht von Rost | |
| persönlich und zwirbelt siegessicher seinen Schnurrbart, neben ihm eine | |
| alte Karte von Mitteleuropa. | |
| ## Geheime Mitglieder seiner Bildungsterrorzelle | |
| „Herrschaften!“, brüllt Oberlehrer von Rost Dustin Otter und die andern an. | |
| „Heute zwei Stunden Geografie, dann Mathe, Deutsch und Staatsbürgerkunde; | |
| morgen Schulliteratur-Leistungskurs und Sport; Mittwoch Musik, Kunst und | |
| Philosophie; Donnerstag Naturwissenschaften; Freitag Astronomie, Werken und | |
| Hauswirtschaft. Am Wochenende machen wir einen Ausflug nach Buchenwald.“ | |
| Weit aufgerissene Augen starren ihn an, einige der unfreiwilligen Schüler | |
| zerren an ihren Fesseln, andere stöhnen laut. | |
| Der Plan würde aufgehen, da war sich Karl von Rost sicher. Sie würden zu | |
| Schläfern werden, geheimen Mitgliedern seiner Bildungsterrorzelle. Sie | |
| würden sich ins Herz der belanglosen Idiotengesellschaft zurückschleichen | |
| und dann blitzschnell zuschlagen, mit all ihrem erworbenen Wissen, und die | |
| Welt von der Herrschaft der Oberflächlichkeit befreien. Von Rost lacht laut | |
| und kehlig auf, dann wandelt sich das Lachen in Husten. Mit einem Scheppern | |
| purzelt die Cognac-Flasche von Tisch und von Rost schreckt hoch. | |
| „Scheibenkleister, vermaledeit!“, brüllt er. Es war alles nur ein Traum. | |
| Der Cognac ist leer, so leer wie sein Arbeitszimmer. Die Illusion ist | |
| zerronnen. Aber wer weiß, vielleicht würde irgendwann sein Traum wahr? | |
| Jetzt musste sich von Rost aber um die wichtigen Dinge kümmern, heute Abend | |
| sollte es Entenstopfleber mit Safranreis geben, und er hatte kein einziges | |
| Gramm Foie gras zu Hause. | |
| 11 Nov 2013 | |
| ## AUTOREN | |
| Michael Gückel | |
| Michael Gückel | |
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